Ein "Offener Brief für den Kinderschutz": Deutschlands Kinderschutz versagt
Archivmeldung vom 24.07.2020
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Freigeschaltet durch André OttMan könnte verzweifeln. Jeden Tag. Täglich sprechen uns viele Bürgerinnen und Bürger als Kinderschutzorganisation an. Sie sind entsetzt und verzweifelt über die Fälle in Lügde, Bergisch-Gladbach, Münster und über die enorm hohe Dunkelziffer der Fälle von Gewalt gegen Kinder. Was auf den Videos von Münster zu sehen sei, sei unvorstellbar sagte ein Ermittler der Kriminalpolizei auf einer Pressekonferenz zum Fall Münster.
Doch die Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen. Sie darf nicht länger wegsehen, es ignorieren, leugnen oder gar bagatellisieren. Dennoch geht das Leugnen weiter. So verweigern beispielsweise selbst Fachleute des Jugendamtes Hameln-Pyrmont vor dem nordrheinwestfälischen Landtag die Aussage zum Fall Lügde.
Den Opfern und denen, die keine werden sollen, ist die Gesellschaft Antworten schuldig und konsequentes, rasches Handeln. Warum, werden sie sonst später fragen, habt ihr unsere Signale nicht gehört und gesehen? Warum wolltet ihr nicht wahrhaben, was mit uns passierte?
Der Kinderschutz in Deutschland versagt. Er repräsentiert nicht hinreichend die Kinder, die es zu schützen gilt, denn er hat vorwiegend die Eltern oder andere Personensorgeberechtigte im Blick. Der Fokus liegt derzeit auf den Erwachsenen. Der Fokus gehört aber auf die Kinder. Es geht jetzt darum, diesen Perspektivwechsel bewusst einzuleiten.
Kinderschutz muss weg vom elternzentrierten Handeln, hin zu einer Praxis, die einlöst, was der Begriff bedeutet: Kinder schützen. Derzeit werden Familien mit Millionen für "Hilfen zur Erziehung" überschüttet, etwa während Lebenskrisen der Eltern. Allzu oft wird das Kind dabei am Rand des Geschehens aus dem Blick verloren. So wie jene Kinder, die an Misshandlung oder Vernachlässigung sterben, obwohl dem Jugendamt eine Akte der Familie vorlag. Einige der Namen erlangten traurige Berühmtheit, zum Beispiel Kevin, 2 (Bremen, 2006), Lea-Sophie, 4 (Schwerin, 2008), Lara-Mia, 9 Monate (Hamburg, 2009), Zoe, 2 (Berlin, 2012) Chantal, 11 (Hamburg, 2012), Yagmur, 3 (Hamburg, 2013) und Alessio, 3 (Lenzkirch, 2015).
Zu oft wird übersehen, was der Fall ist: Kinder, die im eigenen Zuhause Durst und Hunger leiden, deren Körper von Hämatomen übersät sind, die in konstanter Angst leben vor Missbrauch und Misshandlung. Oft präsentieren sich in solchen Fällen die Eltern, Stiefeltern, Alleinerziehende und deren Partner dem Jugendamt gegenüber kooperativ. Ihre Notlage wird anerkannt, ihren Beteuerungen wird geglaubt. Doch sie sind oft auch Experten im Verstellen. Bei Jugendämtern und Gerichten gesteht man dysfunktionalen Personensorgeberechtigten gern "eine zweite Chance" zu. Im Fall Münster wie im Fall Staufen war dem Familiengericht bekannt, dass Mütter von Minderjährigen in Partnerschaft mit einem Pädokriminellen lebten. Geschützt wurden die betroffenen Grundschulkinder dennoch nicht.
Milde gegenüber Eltern, so der Kinder- und Jugendtherapeut Martin Janning, bedeutet in schweren Fällen von Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Gewalt Härte gegen die Kinder. Es wird Zeit, dass Familiengerichte Kinderschutz vor Elternrecht stellen, Zeit, dass an den Familiengerichten Kenntnisse zu Psyche und Entwicklung von Kindern die selbstverständliche Norm werden. Das gesellschaftliche Bewusstsein muss sich ändern, und damit die Praxis im Kinderschutz. Hört man nicht immer gebetsmühlenartig, dass Kinder unsere Zukunft sind? Nein, sind sie nicht! Wenn wir weiter so arrogant agieren, wenn wir ignorieren und nichts tun, verspielen wir die Zukunft unserer Kinder und ihren Schutz.
Man könnte verzweifeln. Jeden Tag.
Die Forderungen des Deutschen Kindervereins finden Sie auf der Webseite: www.deutscher-kinderverein.de
Quelle: Deutscher Kinderverein e.V. (ots)