Neue Westfälische, Bielefeld: Glaubensfrage
Archivmeldung vom 18.09.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.09.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs könnte alles so einfach sein. Würden doch nur alle Deutschen die Wahrheit über die Atomkraft kennen. Der schnellstmögliche Ausstieg ist die einzig vernünftige Lösung - würde dann die Schlussfolgerung lauten, oder: Die Nutzungsdauer dieser Brückentechnologie gehört unbedingt verlängert. Doch die Gemengelage ist unübersichtlich und macht die persönliche Positionsbestimmung zur Glaubensfrage. Die beherrscht auch die Diskussion um die Endlagerung des Atommülls. Unerschütterlichen Optimismus stellt etwa Eon zur Schau.
"Technisch ist die Frage nach dem Verbleib von radioaktiven Abfällen bereits gelöst", heißt es auf der Website des Energieversorgers. Eine Aussage, die Vernunftbegabte nur schwer nachvollziehen können. Da ist zum Beispiel das Endlager Asse II, in dessen Salzstollen rund 126.000 Atommüllfässer lagern. Und in dessen Stollen seit mehr als 20 Jahren unplanmäßig Grundwasser sickert. Vor gut einem Jahr gab das Bundesamt für Strahlenschutz dann Entwarnung: Es sei ohne Gefahr für Bergleute und Bevölkerung möglich, die mit leicht- und mittelschwer radioaktiven Abfällen gefüllten Fässer aus 600 Metern Tiefe zurück an die Oberfläche zu holen. Schönheitsfehler: Umweltminister Röttgen rechnet dafür mit Kosten von knapp 3,7 Milliarden Euro. Wo die Fässer anschließend endgelagert werden sollen ist außerdem unklar, wie die Kosten und Risiken weiterer Lager. Morsleben (Heimat von 30.000 Kubikmetern Atommüll) wird seit 1998 nicht mehr genutzt, weil es als stark einsturzgefährdet gilt. Noch drei Jahre zuvor hatte die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel - vielleicht sogar im festen Glauben daran - versichert, es "gebe kein Sicherheitsdefizit". Dass es in der alten Salzgrube heute plätschert und bröckelt, hat indes keinen Einfluss auf die Marschroute der Regierung. Mit unerschütterlichem Glauben setzt man auf die weitere Erkundung in Gorleben - ausgerechnet in einem alten Salzstock. Bis es Klarheit gibt, rollen die Container nur bis in die oberirdische Betonhalle des Zwischenlagers. Eine "Revolution" der Energiepolitik hatte Merkel trotz dieses Hintergrunds die Laufzeitverlängerung genannt und damit nicht nur Gegner der Atomkraft erzürnt. Obendrein bekommt die passend zu ihrer überraschenden Renaissance ein weiteres Imageproblem. Denn auch die Herkunft des in deutschen Atomkraftwerken genutzten Urans ist unklar. Allein 2009 wurden fast 3.400 Tonnen des radioaktiven Stoffs importiert, vor allem aus Großbritannien und Frankreich. Letzteres bezieht wiederum einen Großteil aus dem westafrikanischen Niger, wo Arbeits- und Naturschutz nach Erkenntnis von unabhängigen Beobachtern Fremdworte sind. Am Ende hilft Kritikern wie Befürwortern nur ihr Glaube. Der Glaube daran, mit Großdemonstrationen (wie am heutigen Samstag in Berlin) die Politik zum Atomausstieg zu bewegen. Oder aber der Glaube, dass die Atomkraft nötig, sicher und ungefährlich ist - und bleibt, bis die Altlasten der Technik in mehreren hunderttausend Jahren ausgestrahlt haben.
Quelle: Neue Westfälische