Westdeutsche Zeitung: Politik und Gesellschaft driften immer weiter auseinander
Archivmeldung vom 02.10.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie eigentliche Aufgabe der Bahn sollte es sein, Menschen miteinander zu verbinden. Stuttgart 21 aber verbindet nicht. Es spaltet vielmehr eine ganze Region in Befürworter und Gegner des Bahnprojekts. Die Bilder von Polizisten, die mit Reizgas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgehen, zeigen sogar in schonungsloser Deutlichkeit, dass Politik und Gesellschaft immer weiter auseinanderdriften. Eine verheerende Entwicklung.
Nur Demonstrationsnostalgiker kämen aber auf die Idee, die Szenen von Stuttgart mit den Schlachten gegen die Startbahn West oder das AKW Brokdorf zu vergleichen. Die Protestkultur 2010 hat nichts mehr gemein mit jener aus den 70er oder 80er Jahren. Denn es sind nicht die üblichen Verdächten mit den radikalen Ansichten, denen es um Konfrontation statt um Konsens geht und die den Abriss des historischen Bahnhofs als Mittel zum Zweck missbrauchen. In vorderster Front stehen auch nicht die Gewerkschafter und Parteimitglieder mit ihren Transparenten, sondern Schüler, Studienräte, Ingenieure und Rentner aus der sogenannten bürgerlichen Mitte. Das ist kein Kampf gegen das Establishment, sondern Protest aus ihm heraus. Genau das sollte der Politik eine Warnung sein.
Die Bürger nehmen das Heft selbst in die Hand, weil ihre Volksvertreter in Starre verfallen oder sich wie Koch, Merz und Co. gleich ganz verabschieden. Weil die Politik keine Antworten auf die Fragen der Jugend hat, wie es um ihre Zukunft bestellt ist mit Blick auf Staatsschulden, Altersversorgung oder atomare Endlagerung. Und weil die Politik den Menschen vorlebt, dass Gesetze eine kurze Halbwertszeit haben - sei es bei der Rente mit 67, den AKW-Laufzeiten oder bildungspolitischen Weichenstellungen in den Ländern. Da fühlt sich das Volk in seiner Politikverdrossenheit aufgerufen, Entscheidungen auf der Straße zu blockieren.
Was kann der Staat aus Stuttgart 21 lernen? Dass er auch einen 16-jährigen demokratischen Entscheidungsprozess immer wieder erklären und überprüfen muss. Was sollten die Gegner daraus lernen? Dass eine gelebte Demokratie nur ihren Namen verdient, wenn sie sich über Argumente definiert. Zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch gibt es keine Alternative. Gewalt ist das Versagen jeglicher Vernunft.
Quelle: Westdeutsche Zeitung