WAZ: Merkel entdeckt Förderschieflagen - Wie der Westen zum neuen Osten wird
Archivmeldung vom 18.12.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittFast 20 Jahre, nachdem Kanzler Kohl von blühenden Landschaften sprach und Milliardensubventionen in die neuen Bundesländer flossen, gibt es das immer noch: Marode Verwaltungsgebäude, bröckelnde Schulen, verwildernde Parks und - fühlbar zunehmend - Straßen in einem Zustand, der auch Privatpersonen den Gebrauch von Kettenfahrzeugen anempfiehlt.
Nur: Die Erosion des immobilen Teils der Nation ist jetzt vor allem da zu finden - im Westen.
Aufmerksamen Beobachtern der schrägen Entwicklung, wie Oliver Wittke, fiel die Ungleichbehandlung östlicher und westlicher Kommunen bereits auf, als er noch Oberbürgermeister Gelsenkirchens war. Doch selbst wer auf die Absurdität hinwies, dass z. B. investitionsschwache, hoch verschuldete Ruhrgebietsstädte sich noch höher verschulden mussten, um den Solidarbeitrag zum Aufbau Ost leisten zu können, war ein verlorener Rufer in der Wüste. Schlimmer: Skepsis an der finanziellen Bevorzugung des Ostens kam für Einheits-euphorisierte Politiker einem unpatriotischen Akt gleich.
Jetzt aber weist die Kanzlerin selbst auf die Schieflage hin. Gewiss wird deshalb kein Cent des bis 2019 ausgelegten Solidarpakts II gestoppt oder umgeleitet. Die Bedeutung liegt vor allem in dem politischen Signal, dass zweckerfüllende Förderung nicht nach der Himmelsrichtung vergeben werden darf, sondern nach Notwendigkeit zu erfolgen hat. (Dass dies Merkel im Westen im Wahljahr Stimmen bringen wird, ist eine andere politische Komponente; aber auch, dass eine über ihren "Verrat an östlichen Interessen" frohlockende Linke im Osten auf Stimmenfang gehen dürfte).
In der Sache selbst gibt es eine durchaus konkrete Perspektive für westliche Städte. Der Einsatzschwerpunkt der geplanten Milliardeninvestitionen im Rahmen des neuen Konjunkturpakets soll Verbesserung und Ausbau der Infrastruktur dienen. Da gibt es von der Schulensanierung bis zur Verbesserung des Nahverkehrs im Ruhrgebiet reichlich zu tun. Die Frage ist: Ob sie sich Finanzhilfen überhaupt leisten können.
Bisher nämlich sind Förderprojekte an einen finanziellen Eigenanteil gekoppelt. Doch der übersteigt die Möglichkeiten vieler Kommunen. Skurril, aber deutsche Realität: Ausgerechnet die Ärmsten, die Hilfe am Nötigsten brauchen, gehen wegen dieser Bedingung leer aus. Daher muss, wer den Westen aufbauen will, neue Finanzregelungen schaffen. Mit Gedanken an eine stärkere Beteiligung von Bund und Land zugunsten der Städte liegt Fachminister Tiefensee in der Hinsicht gar nicht schlecht.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Rolf Potthoff)