Südwest Presse: Kommentar zur Faßball-EM
Archivmeldung vom 07.06.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDas deutsche Alphabet hat 26 Buchstaben. Das erscheint recht wenig, wenn man bedenkt, was diese 26 Buchstaben alles zu leisten imstande sind. Sie reichen aus, um das Wissen der Welt in Sachbüchern zu beschreiben. Mehr noch, mit diesen 26 Buchstaben kann auch eine fiktive Welt geschaffen werden.
Ein guter Roman, ein spannender Krimi kann ungemein fesselnd sein. Man taucht beim Lesen für einige Stunden in eine ganz andere Umgebung ein. Und dies dank der nur 26 Buchstaben. Beim Fußball stehen immerhin 22 Spieler auf dem Rasen - und rennen stupide einem Ball hinterher, weswegen dieser Sport uninteressant sei, so ein oft gehörtes Klischee bei Sport-Banausen. Doch weit gefehlt. Auch die 22 Akteure eines Spiels stellen, wenn man nur genau genug hinschaut, eine eigene Welt dar, durchaus vergleichbar mit Schauspielern am Theater. Der Zuschauer hat alle Freiheiten: Für manche ist der Fußball, zum Verdruss der eigentlichen Fans, zum Event geworden. Sehen und in den VIP-Logen gesehen werden ist der eigentliche Zweck des Besuches. Für den wahren Fußball-Freund gibt es unzählige Perspektiven, eine Begegnung zu betrachten. Natürlich kann man ein Spiel gedankenlos an sich vorbeiplätschern lassen. Er kann einen einzelnen Spieler beobachten, dessen Körpersprache, das Zusammenspiel mit seinen Teamkollegen, die vielzitierten Laufwege. Er kann das Zusammenspiel zwischen den Mannschaftsteilen studieren, das taktische Verhalten. Es gibt Spiele, da trifft ein Favorit auf einen krassen Außenseiter, der nichts anderes plant als sich einzuigeln: Wie wehrt der sich? Wie schafft es das überlegene Team, die andere Mannschaft aus der Defensive zu locken? Bei Duellen zwischen gleich starken Teams kann man sich fragen, welche Nuance den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmacht. Natürlich gibt es auch nichtssagende Begegnungen, die am Tag danach bereits wieder vergessen sind. Aber verläuft der Alltag nicht genauso? Als "König der Spiele" wird oft das Schach mit seinen 32 Figuren bezeichnet. Doch dessen Popularität reicht nie an den Fußball heran. Im Schach sind die Züge vorgegeben, jede Figur kann nur in einem vorgegebenen Maß bewegt werden. Der Fußball hingegen ist athletisch, dynamisch, hier ist der "Läufer", anders als beim Schach, frei von Zugzwängen, kann aus seinem festen Korsett ausbrechen. Er hat theoretisch alle Handlungsmöglichkeiten, kann von Punkt A an jeden anderen Punkt im Fußball-Feld passen. Heute beginnt in Österreich und der Schweiz die Fußball-EM. Es wird in den nächsten Jahren vermutlich das einzige große Turnier sein, das sich unbeschwert genießen lassen wird. Die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika wird aufgrund der dortigen sozialen und politischen Lage ein mehr als heikles Unterfangen. Die Europameisterschaft 2012 teilen sich Polen und die Ukraine. In Polen droht der Fußball in einem Sumpf von Korruption, Wettskandalen und Problemen mit Hooligans zu versinken. Der Ukraine wird kaum zugetraut, bis in vier Jahren ihre Probleme in Sachen Stadien und Infrastruktur zu beheben. Und auch die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien wird zu einer logistischen Herausforderung. In allen drei Fällen kommen auf den europäischen Verband Uefa und den Weltverband Fifa erhebliche Probleme zu. In beiden Alpenländern ist davon nichts zu spüren. Die Polizei hat zwar Pläne für mögliche Ausschreitungen in der Tasche, doch derzeit deutet nichts darauf hin. Also sollte in den nächsten drei Wochen auch nichts von der Freude am Fußball, dem großen Theater nicht nur des kleinen Mannes, ablenken. Auch wenn es schwer wird, ein "Sommermärchen" wie 2006 zu wiederholen.
Quelle: Südwest Presse