WAZ: Acht Wochen vor der Wahl
Archivmeldung vom 01.08.2009
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 01.08.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAngela Merkel freut sich schon auf erholsame Tage in Südtirol. Grund dazu hat sie. Selten sah ein Kanzler acht Wochen vor einer Bundestagswahl politisch so ruhigen Ferien entgegen. Gerade vor dem Hintergrund eines eigentlich schwierigen Fünf-Parteien-Parlaments könnte die Ausgangslage günstiger nicht sein.
So gut wie alles, was im Wahlkampf gerne Probleme macht, kann Merkel gelassen betrachten.
Als da wären: 1. Die eigene Partei ist stillgelegt bis zur Langeweile. Alles schaut auf die Chefin, auch die einst so renitenten Ministerpräsidenten. 2. Der Gegenkandidat: Merkel führt in der persönlichen Beliebtheit mit 60 zu 25 Prozent - das sagt alles. Obwohl er überparteilich geachtet ist, sehen die meisten Wähler keinen Grund, Merkel gegen Steinmeier auszutauschen. 3. Die denkbaren Koalitionspartner würden sich allesamt nicht verweigern. Ob Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot oder sogar Schwarz-Grün: Merkel hat viele Optionen und bliebe selbst immer oben - für sie ein Traum. Schließlich 4. Von Wechselstimmung ist auch inhaltlich nichts zu spüren, trotz einer längst nicht ausgestandenen Finanzkrise.
Wen wundert's da, dass das politische Leben so müde dahindümpelt. Sicher, die Union kann gar kein Interesse an einem echten Wahlkampf haben. Mit einer präsidialen Kanzlerin, die sich aller Polemik entzieht und scharfkantige Themen umschifft, lässt sich am meisten erreichen. Die SPD hingegen müsste zubeißen, sucht verzweifelt nach guten Themen, ist aber gezwungen, die kostbare öffentliche Aufmerksamkeit mit Dienstwagen-Mätzchen zu teilen.
Und Steinmeiers Kompetenzteam? Um es mit Claudia Roth von den Grünen zu sagen: "Das haut mich echt nicht vom Hocker." Roth hat nicht immer Recht, aber manchmal halt schon. Wenn Andrea Nahles gestern eine "Wahnsinnsaufholjagd" ankündigt, klingt das wie schrilles Pfeifen im dunklen Wald. Im besten Fall wirkt das Kompetenzteam wie der Kern einer SPD im Neuaufbau - nach einer verlorenen Wahl. Die Mischung aus Routiniers und unbekannten Neulingen setzt wenig Phantasie frei. Man merkt bei solchen Gelegenheiten, dass der SPD eine Generation politischer Talente fehlt, die es zu den Grünen zog.
Einer macht immerhin neugierig: Der frühere Bankchef, Multimillionär und dennoch treue Sozialdemokrat Harald Christ könnte so etwas wie Steinmeiers Guttenberg werden. Nötig wär's. Die Wirtschaftskompetenz, die Wahlen entscheidet, vermisst man bei der SPD schmerzlich.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung