Leipziger Volkszeitung zum CDU-Richtungsstreit
Archivmeldung vom 23.08.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWie wird die Union wieder Volkspartei? Nach einem niederschmetternden Bundestagswahlergebnis von 35,2 Prozent und aktuellen Umfragewerten im Sinkflug sucht die CDU bei ihrer Grundsatzdebatte nach einer Identität.
Diese war in Kohls kleiner
Welt sehr viel einfacher zu finden als in Merkels
Globalisierungszeiten. Für die Kanzlerin liegt der politische Kompass
für das 21. Jahrhundert auf der Hand: die Leipziger
Parteitagsbeschlüsse. Dummerweise sind genau jene radikalen Reformen
ein Hauptgrund für das Wahldesaster von 2005.
Dennoch hat die CDU-Chefin Recht. Ohne Erneuerung wird die Partei in
einer Starre verharren, die auf Dauer ebenso wenig mehrheitsfähig
ist, wie es bei der letzten Wahl die Leipziger Beschlüsse waren.
Einschneidende Veränderungen sind ein mühsamer Prozess - der Wähler
kosten kann. Merkels Dilemma liegt zudem darin begründet, dass bei
ihr Worte und Taten weit auseinanderliegen. Sie kann in der großen
Koalition keine marktradikalen Theorien in die Praxis umsetzen und
hat daher ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Auf der Suche nach
dem Neuanfang verharrt die CDU in einem gefährlichen Spagat, bei dem
sie konservative Stammwähler vergrault, ohne ein neues Klientel zu
erschließen.
Die Idee des Familiensplittings, Elterngeld, Toleranz anderer
Lebensformen und somit die Anerkennung der Wirklichkeit - all das
sind wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Partei.
In Kombination mit der Mehrwertsteuererhöhung, einer verkorksten
Gesundheitsreform und dem Kuschelkurs mit Koalitionspartner SPD ist
dies momentan jedoch zu viel für traditionelle Unionswähler. Sie
wenden sich mit Grausen ab, beziehungsweise mit Leidenschaft der FDP
zu. Die SPD hat ebenfalls schmerzhafte Erfahrungen mit ihrer
politischen Kehrtwende - Stichwort: Agenda 2010 - machen müssen.
Fazit: Die ehemaligen Volksparteien sind beide im Umbruch, die SPD
ist nur etwas weiter.
Aus Angst vor noch mehr Wählerschwund versteckt sich die Union hinter
Worthülsen: Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität. Was
ist gemeint? Die Freiheit der Krankenkassen, ihre Beiträge trotz
Gesundheitsreform zu erhöhen? Die Verantwortung von Kindern, für ihre
langzeitarbeitslosen Eltern aufzukommen? Momentan kann die CDU nicht
mal erklären, wie sich das viel zitierte christliche Menschenbild in
ihrer Politik niederschlägt. Das ist zu wenig für eine Partei, die
eine Identität braucht, sich scharf vom Koalitionspartner abgrenzen
und bei der nächsten Bundestagswahl das Volk mit 40 Prozent plus X
gewinnen will.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung