General-Anzeiger: zu Wulff
Archivmeldung vom 05.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAlles lief auf Ursula von der Leyen zu, doch kurz vor der Ziellinie wurde sie abgefangen - von ihrem früheren Chef Christian Wulff, der sie einst als Ministerin in sein Kabinett in Hannover geholt hatte. Statt der Mutter der Nation soll nun der vermeintliche Schwiegersohn der Nation Bundespräsident werden.
Eine Überraschung, die sich aber leicht erklären lässt. Ursula von der Leyen hat die Republik in ihrer Funktion als Familienministerin mächtig aufgemischt. Sie hat vielen auf die Füße getreten: den Liberalen etwa beim Thema Internet-Überwachung oder auch den Konservativen in CDU und CSU, denen die forsche von der Leyen mit ihrer modernen Familienpolitik nie ganz geheuer war. Zudem: eine Frau, Protestantin, wie die Bundeskanzlerin. Das war dann offenbar doch zu viel des Gut. D a kam die Personalie Wulff gerade recht. Um es gleich vorwegzunehmen: Christian Wulff kann ein überzeugender, ein guter Bundespräsident werden. Dies aber nicht in der Rolle des liebsten Schwiegersohns der Republik. Das Image ist längst überholt, wahrscheinlich hat es nie wirklich gepasst. Denn so ruhig und ausgeglichen, so bescheiden und verlässlich, ja so bieder und langweilig Wulff manchmal daherkommt, so hart und durchsetzungsstark, so zielorientiert und zielstrebig kann er in wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen sein. Wulff ist ein Stratege, ein geduldiger, beharrlicher Politiker, der in den vergangenen sieben Jahren als Ministerpräsident in Niedersachsen erheblich an Statur gewonnen hat.
Natürlich braucht auch der erst 50-Jährige Zeit, um in das Amt des Bundespräsidenten hineinzuwachsen, um zum Beispiel die internationalen Erfahrungen zu sammeln, die ihm weitgehend fehlen. Doch Wulff kann auf Menschen zugehen, er kann integrieren, er beherrscht die Klaviatur der präsidialen Auftritte ebenso wie die Regeln der Öffentlichkeitsarbeit. Seine Außenwirkung wird eine andere sein, als es bei Horst Köhler in den vergangenen Wochen und Monaten der Fall war. Wulff hat vor allem aus seinen Niederlagen gelernt. Eigentlich gibt es nur zwei Kontrahenten, gegen die er sich letztlich nie durchsetzen konnte: Gerhard Schröder, der ihn bei Landtagswahlen zweimal besiegte, sowie der ebenso mächtige wi e strategisch brillante Porsche-Enkel Ferdinand Piëch, mit dem sich Wulff in Hannover stets um die Macht über VW und damit den größten Autokonzern Europas stritt. Das hat vor allem in Wirtschaftsfragen Wulffs Profil geschärft.
Ansonsten erreichte Wulff stets seine wichtigsten politischen Ziele, im Übrigen auch gegen den heutigen SPD-Chef Sigmar Gabriel, dem er 2003 das Ministerpräsidentenamt in Niedersachsen abnahm. Wulff hat also Steher-Qualitäten bewiesen und ist weitaus resoluter, als es gemeinhin den Anschein hat. Wie Wulff im Falle seiner Wahl das neue Amt mit Blick auf sein Verhältnis zur Bundesregierung und damit zur Bundeskanzlerin ausfüllen wird, ist derzeit schwer prognostizierbar. Richtig ist, dass Angela Merkel nach Friedrich Merz, Günther Oettinger und Roland Koch mit Wulff einen der letzten innerparteilichen Konkurrenten aus dem operativen Politik-Geschäft verabschieden wird. Das mag der Macht-Politikerin Merkel helfen. Andererseits darf man die Wirkung von öffentlichen Worten eines Bundespräsidenten nicht unterschätzen. Hier liegt eine Chance für Wulff, Richtungen vorzugeben und der Bundesregierung einiges abzuverlangen. Gerade das hat bei Horst Köhler zuletzt gefehlt.
Quelle: General-Anzeiger