Börsen-Zeitung: Keine Entwarnung
Archivmeldung vom 16.11.2018
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 16.11.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch André OttNun liegt das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen nach eineinhalb quälenden Jahren also endlich auf dem Tisch: ein 585 Seiten starkes Austrittsabkommen mit detaillierten, juristisch wasserdichten Formulierungen, drei Zusatzprotokollen sowie einer achtseitigen politischen Erklärung zu den künftigen Beziehungen. Beim Lesen dieser Dokumente wird schnell klar: Die EU-27 hat sich in nahezu allen wesentlichen Punkten durchgesetzt.
Großbritannien muss auch nach dem Austritt im März zunächst weiter in den EU-Haushalt einzahlen, Regelungen und Standards der EU weiterhin beachten (ohne aber Mitspracherechte zu haben), die Integrität des Binnenmarktes akzeptieren und ist auch keineswegs sofort unabhängig in der Handelspolitik - um nur einige Punkte zu nennen.
Der Grund hierfür: Bei den Brexit-Gesprächen standen sich zwei ungleiche Partner gegenüber, die keine Verhandlungen auf Augenhöhe geführt haben. Auf der einen Seite stand die EU mit einem klaren Verhandlungsmandat, das von Michel Barnier stringent umgesetzt wurde. Dabei ist ihm das Kunststück gelungen, 27 Staaten bis heute völlig geeint zusammenzuhalten. Auf der Gegenseite verhandelte die Regierung eines zerrissenen Landes, der sowohl ein Konzept als auch der politische Rückhalt fehlte. Und der nun die von den Brexiteers geschürten Erwartungen einmal mehr auf die Füße fallen.
Dass sich in Brüssel noch niemand so richtig über den Verhandlungserfolg freuen kann, hat genau damit zu tun: Zum einen ist nämlich nach wie vor völlig unklar, wie der Deal vom Unterhaus in London akzeptiert werden kann. Unternehmen und Politik tun gut daran, keine Entwarnung zu geben und ihre Notfallplanungen für den Fall eines Chaos-Brexit ohne Abkommen weiter fortzusetzen.
Zum anderen stehen die vielleicht noch viel wichtigeren Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU ja erst noch bevor: nämlich die über die künftigen Beziehungen. Diese beginnen offiziell am Tag nach dem Austritt und sollen ebenfalls in gut eineinhalb Jahren abgeschlossen sein. Wer weiß, wie zäh und lange die EU ansonsten über Freihandelsabkommen verhandelt, weiß auch, wie ambitioniert dieser Zeitplan ist.
Aber mal sehen - vielleicht kommt ja doch noch alles ganz anders. "Brexit means Brexit", sagen die Austrittsbefürworter in London. Was Brexit konkret bedeutet, ist nun auf 585 Seiten nachzulesen. Vielleicht wäre jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, in der britischen Bevölkerung noch einmal nachzufragen, ob sie dies auch wirklich so gewollt hat.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Andreas Heitker