Leipziger Volkszeitung zum Jahreswechsel
Archivmeldung vom 31.12.2005
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 31.12.2005 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt2005 war das Jahr der großen Überraschungen. 2006 wird das der großen Erwartungen. Wir sind Papst und wir sind Kanzlerin, würde der Boulevard zum Jahresabschluss resümieren. Aber noch immer ist Deutschland weit davon entfernt, seinen Platz in einer sich radikal verändernden Welt zu finden.
Die von der Globalisierung
geschüttelten Menschen suchen nach wieder belebten, traditionellen
Werten, die ihnen auch in der Sinnkrise und angesichts von realen und
eingebildeten Zukunftsängsten Halt geben. Eine Wertedebatte ist
überfällig. Und ein Rezept gegen die Massenarbeitslosigkeit. Wegen
fehlender oder trotz enormer Gewinne verlagern Unternehmen immer mehr
Arbeitsplätze ins Ausland. Der Trend wird anhalten. Dennoch wächst
der Optimismus in der Bevölkerung und in der Wirtschaft. 200000
Arbeitsplätze könnten im kommenden Jahr entstehen, wenngleich sie
schlechter bezahlt sein werden als die bisherigen. Kommt 2006 also
der Aufschwung? Wie oft haben wir diese Prognose in den letzten
Jahren gehört, ohne das sie sich erfüllt hätte. Diesmal stehen die
Chancen besser: Die Fußball-Weltmeisterschaft bringt neben Spaß und
internationalem Flair Extra-Geld in die Kassen. Die Wirtschaft steht
im Investitionsstau, der abgebaut werden könnte. Die Angst vor der
Mehrwertsteuererhöhung könnte Kunden in die Läden treiben. Hier liegt
die Überlebenshoffnung der großen Koalition für das kommende Jahr,
dass sie vermutlich trotz gegenseitiger Stänkereien und Provokationen
überstehen wird. Die neue Regierung hat einiges auf den Weg gebracht,
was der Konjunktur im kommenden Jahr auf die Beine hilft, aber plant
gleichzeitig viel ökonomisch Zweifelhaftes, das den Aufschwung 2007
gleich wieder abwürgen könnte. Die Debatten darüber werden heftig
aufflackern: Nachdenken und Nachbessern wünschenswert - und nicht
ausgeschlossen. Reform darf kein Schimpfwort bleiben.
Mehr Steuern in einem überlasteten Wohlfahrtsstaat führen nicht zu
der von Angela Merkel ersehnten starken Gemeinsamkeit, sondern zu
einer noch tieferen Spaltung und mentalen Entsolidarisierung der
Gesellschaft. Steuererhöhungen sind kein Beweis für Mut, sondern für
reformerische Mutlosigkeit. Vieles was wir brauchen, ist ohne Geld zu
haben. Strukturreformen kosten wenig. Werte gar nichts. Sie müssen
aber wieder eine allzu sehr auf Materielles setzende und Regelbrüche
akzeptierende Gesellschaft durchdringen. Hier fehlen Politikern und
anderen Meinungsführern Streitlust und Mut zum Querdenken, vielen
Eltern zum Erziehen und manchem Lehrer zum Hingucken. Die Familien
werden kleiner. Alleingelassen werden die Menschen oft auch von
Funktionären der Amtskirchen, die tagespolitische Parteinahme mit
fundamentaler Werteorientierung verwechseln. Kirchen, Vereine, Staat
und Parteien verlieren weiter an Boden. Aber auch die ethische
Verantwortung von Unternehmensführungen gerät immer häufiger ins
Zwielicht. Anonymität und Kontaktschwäche der Gesellschaft zeigen
Wirkung.
Es sind ausufernde Bürokratie und subventionsgetriebenes
Lobbyistentum, die uns zum Fall internationaler Besorgnis machen. Es
wäre gratis, endlich zu handeln! Außer engagierten Sonntagsreden aber
passiert nichts. Die Bürokratie wird nach jeder Ankündigung, sie
abzubauen, nur noch schlimmer. Jeder Regierung, die
verantwortungsvoll handelt, bleibt nichts anderes übrig, als
Deutschland gegen innere Widerstände fitter für die rasant
zusammenwachsende Welt zu machen. Das wird auch in den kommenden
Jahren Leistungseinschnitte für Bürger bedeuten, wenn die
Verschuldung nicht noch weiter wachsen soll. Der Staat subventioniert
noch immer viel zu stark das Nichtstun. Aber nicht nur Deutschland
muss sich ändern, sondern auch die Welt um uns herum. Auf Dauer
müssen Löhne und Sozialstandards in Tschechien, der Ukraine oder
China steigen. Es kann nicht sein, dass dort mit Billiglöhnen nur für
den Export produziert wird, während wegen wachsender Arbeitslosigkeit
in den alten Industrieländern immer weniger Menschen diese Waren
kaufen können. Doch diesen langwierigen internationalen Prozess
einfach abzuwarten, ohne an sich selbst zu arbeiten, bekäme
Deutschland schlecht.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung