Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum SPD-Parteitag
Archivmeldung vom 29.10.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt»Hanebüchenen Unsinn« nennt Kurt Beck das Wort vom »Linksruck« in der SPD. Seine neue Stellvertreterin Andrea Nahles erklärt im gleichen Brustton der Überzeugung: »Das neue Parteiprogramm ist ein Programm gegen die ungebremste Macht des Kapitals.«
Tatsächlich hat die Partei in der Hansestadt Hamburg nicht nur beim
Weichspülen der Agenda 2010 des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard
Schröder - einem Kernanliegen Kurt Becks - Duftmarken der
sozialdemokratischen Art gesetzt: »linke Volkspartei«,
»demokratischer Sozialismus«, »menschlich ist, was das Männliche
überwindet« - Chiffren linksliberalen Freidenkens, alles Wegemarken
aus 144 Jahren Parteitradition.
So will man sein: nicht bürgerlich, nicht übertrieben vernünftig und
auch nicht alles in Euro und Cent ausdiskutierend, sondern einfach
sozialdemokratisch sein und bleiben.
Kurzum: Die SPD sagt, was sie denkt, und das ist auch ihr Recht. In
Zeiten der großen Koalition, der vielen Rücksichtnahmen und des
Verzichts auf Gegner in der Tagespolitik hat die Programmdiskussion
Freiraum gegeben. Es geht darum, sich seines eigenen Standpunktes zu
vergewissern.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Überraschungen des dreitägigen
Konvents zu bewerten: Das Tempolimit 130 wird nicht kommen, aber es
hat bereits seinen Zweck erfüllt. Bürgerschreck sein streichelt eben
die Parteiseele.
Selbst Pedanten wie der frühere Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel
müssen zugeben, dass schon frühere Tempolimits Papiertiger blieben.
1974 wurde der Beschluss zum Tempo 100 selbst von Vogels Dienstwagen
nur wenige Wochen durchgehalten.
Noch ein Symbolthema: Kurt Beck hat sich nach langem Zögern selbst
auf die Seite der Frauen gestellt und das von Erhard Eppler
begründete Wort von der Menschlichkeit über der Männlichkeit
akzeptiert.
Weniger schmecken dürfte den Praktikern allerdings, was ihnen in
Hamburg die Parteibasis in Sachen Dienstwagen und Bahnprivatisierung
eingebrockt hat. Stimmrechtslose Vorzugsaktien sollen das große Geld,
das der Staat nicht hat, aus der Wirtschaft anlocken. Finanzexperten
können da nur müde lächeln.
Bestandteil des von Beck nur mühsam geretteten Bahn-Kompromisses ist
eine neue Abstimmungsebene: Spitzengremien der SPD sollen mit solchen
im Konrad-Adenauer-Haus die Bahnprivatisierung weiterverhandeln.
Nanu, eine große Koalition der Parteivorstände von Rot und Schwarz?
Nicht alles ist schlüssig, was nach diesem Parteitag an Maßgaben von
Hamburg nach Berlin gegeben wird. Dort sind dann wieder die Realos am
Zuge.
Die Minister und Vizevorsitzenden Peer Steinbrück und Steinmeier, vor
allem aber der Vize-Kanzler haben dann wieder das Heft des Handelns
in der Hand. Dass Franz Müntefering dabei den demonstrativen
Händedruck mit Beck vor dem Parteitag im Sinn behält, darf bezweifelt
werden.
Quelle: Pressemitteilung Westfalen-Blatt