BERLINER MORGENPOST: Deutscher Vordergrund
Archivmeldung vom 03.11.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.11.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittFast 20 Prozent der in der Bundesrepublik lebenden Einwohner, mehr als 15 Millionen Menschen, haben einen "Migrationshintergrund". Im Sprachgebrauch wird dieser Begriff meist dann benutzt, wenn man darauf aufmerksam machen möchte, dass die so beschriebene Person oder ihre Familie nach 1950 in die Bundesrepublik eingewandert ist und möglicherweise eine Menge Probleme mit ins Land geschleppt hat.
Die Vokabel vernebelt mehr, als sie klärt. Die türkischstämmige Frauenrechtlerin Seyran Ates hat sich vor Kurzem ein T-Shirt drucken lassen, auf dessen Rückseite in Versalien "Migrationshintergrund" zu lesen ist. Und vorne: "Deutscher Vordergrund". Damit wollte sie ihre ganz private Existenz in der Bundesrepublik beschreiben; gleichzeitig hat sie mit dieser Idee nicht nur die Lebenswirklichkeit von Millionen Einwanderern beschrieben, sondern auch eine wichtige Aufgabe formuliert. Denn die Frage, welches Ergebnis die Integration von Einwanderern in Deutschland haben soll, ist trotz aller Gipfeltreffen, Talkshow-Debatten und Bücher zum Thema nicht hinreichend geklärt. Fürs Erste hat man parteiübergreifendes Einvernehmen erzielt, dass das Erlernen der deutschen Sprache ein wichtiges Instrument der Integration sei. Diese bahnbrechende Erkenntnis wird im Moment mit einer flächendeckenden Werbekampagne unters Volk gebracht: "Raus mit der Sprache. Rein ins Leben". Gut, Deutsch lernen, klar. Und dann? Wer einen unverstellten Blick in die islamisch geprägten Parallelwelten des heutigen Deutschlands riskieren will, dem sei das gerade erschienene Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude" empfohlen. Der Israeli Arye Sharuz Shalicar beschreibt darin seine Jugend im Berliner Wedding der 90er-Jahre - und eine Juden- und Deutschenfeindlichkeit, die einem den Atem verschlägt. Weder Lehrer noch Sozialarbeiter oder Polizisten konnten diesen Abschottungsprozess einer ganzen Generation von türkischen und arabischen Einwanderern aufhalten. Die deutsche Sprache war nicht das Problem. Shalicar wurde auf Deutsch als "Scheiß-Jude" beschimpft. Und weil es auch für deutschstämmige Schüler immer schwerer wird, in solcher Umgebung zu bestehen, ist es auch keine Ausnahme, dass sie sich inzwischen auf ihre Weise im Wedding integrieren: Auch wenn sie es besser könnten, sprechen immer mehr deutsche Schüler dort jenes "Türkendeutsch", das mehr Beleidigungen kennt als Verben. Der kleine Bruder eines alten deutschen Freundes im Wedding, berichtet Shalicar, besuche inzwischen zweimal wöchentlich ein Sonnenstudio, um sich nun auch äußerlich seinen Schulfreunden anzuverwandeln. Es gibt leider immer mehr Orte, in denen der deutsche Vordergrund in den Hintergrund rückt. Dieser deutsche Vordergrund besteht in der Achtung zivilgesellschaftlicher, demokratischer Regeln, der Verteidigung von Menschenrechten, der Freiheit von Andersdenkenden. Nennen wir es ruhig die Akzeptanz westlicher Werte. Wo sie verschwinden, kann man als Einwanderer nicht mehr ankommen, sondern höchstens noch ausbrechen.
Quelle: BERLINER MORGENPOST