Mittelbayerische Zeitung: zu Ungarn
Archivmeldung vom 02.01.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Augen Europas ruhen auf dem Süden des Kontinents. Griechenland gilt als wichtigster Krisenherd, gefolgt von Italien, Spanien und Portugal. Tatsächlich aber häuft ein kleines Land im östlichen Mitteleuropa seit geraumer Zeit so viel Sprengstoff an, dass eine Explosion die EU zum Bersten bringen könnte. Die Rede ist von Ungarn. Das Land ist wirtschaftlich ähnlich stark angeschlagen wie die südeuropäischen Pleitestaaten. Erst in dieser Woche musste Budapest eine Auktion von Staatsanleihen absagen, weil sie mit einem Zinsniveau von fast zehn Prozent unter Ramschniveau gehandelt wurden.
Ratingagenturen sprechen von Schrottpapieren. Schon 2008 konnte Ungarn einen Bankrott nur mit Hilfe internationaler Milliardenkredite vermeiden. Die Landeswährung Forint befindet sich im freien Fall. Ein Wachstum ist 2012 nicht in Sicht. Kurz: Die Lage ist dramatisch. Anders aber als in Athen, Rom und Madrid ist in Budapest nicht etwa ein Regierungswechsel in Sicht, von dem ein Hoffnungsschimmer ausgehen könnte. Ganz im Gegenteil! In Ungarn ist Ministerpräsident Viktor Orban dabei, einen autoritären Staat zu errichten. Das System basiert auf nationalistischen Werten und hat kaum noch etwas mit den demokratischen Fundamenten zu tun, auf denen die EU ruht. Dies wiederum macht Ungarn zu einem heißeren Kandidaten für einen eskalierenden Grundsatzkonflikt mit Brüssel oder gar einen EU-Austritt, als etwa Großbritannien dies ist. Die von Orban straff geführte Fidesz-Partei verfügt im Budapester Parlament über eine Zweidrittelmehrheit. Mit dieser Übermacht im Rücken hat der Ministerpräsident eine neue Verfassung entwerfen lassen, die am 1. Januar in Kraft tritt. Das Grundgesetz entzieht dem demokratischen Rechtsstaat die Grundlagen. Es entmachtet das Verfassungsgericht ebenso wie das Parlament. In der von patriotischem Schwulst aufgeblähten Präambel werden Nation und Familie, Wohlstand, Sicherheit, Ordnung, Glaube, Liebe, Treue und anderes mehr in den gleichen Rang gehoben wie die Menschenwürde. Es bleibt unklar, ob diese künftig unantastbar ist. Was das konkret bedeutet, zeigt der Streit um das ungarische Mediengesetz. Das Verfassungsgericht hatte kurz vor Weihnachten Teile des demokratiefeindlichen Machwerks einkassiert. Im neuen Jahr dürften die strittigen Paragrafen in leicht veränderter Fassung bald wieder im Gesetzblatt auftauchen. Und diesmal wird kein Richter mehr dem Treiben Einhalt gebieten können. Die neue Verfassung schafft einen Rahmen, den Orban nach eigenem Gutdünken ausfüllen kann. Man muss nicht so weit gehen wie einzelne Kritiker in Ungarn, die von einem Ermächtigungsgesetz sprechen und das Schreckensgemälde einer Machtübernahme im Stile der Nazis an die Wand malen. Genauso verkehrt aber wäre es, die Situation an der Donau zu bagatellisieren. Der Weg zu einer autoritären Herrschaft ist geebnet. Schlimmer noch: Es sind die Antisemiten und Ultranationalisten am äußersten rechten Rand, die Orban vor sich her treiben. Die Wirtschaftskrise verschafft zwar auch der fast schon in Vergessenheit geratenen linken und liberalen Opposition neuen Zulauf. Ob sie die Kraft haben wird, dem ebenso populistischen wie noch immer populären Fidesz-Führer Paroli zu bieten, ist allerdings zweifelhaft. Auch die EU hat Orban bislang gewähren lassen. Das Problem für Brüssel ist, dass die Ungarn ihren Ministerpräsidenten in einer freien Wahl mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestattet haben. Gleichwohl ist es höchste Zeit zu handeln. Denn der drohende Niedergang seines Landes könnte Orban bald in die Flucht nach vorn treiben. Was liegt für einen Volkstribun näher, als wahlweise die EU oder die Weltfinanzmärkte für die eigene Schwäche verantwortlich zu machen? Bereits einmal hat Orban dem Internationalen Währungsfonds eine spektakuläre Abfuhr erteilt nach der Devise "Wir sind eine starke Nation, wir brauchen euch nicht!" Ein EU-Austritt Ungarns ist deshalb auf mittlere Sicht zwar noch immer eher unwahrscheinlich. Ausgeschlossen ist er jedoch keineswegs. Es wäre ein Fanal des Untergangs.
Quelle: Mittelbayerische Zeitung (ots)