Westdeutsche Zeitung: Vollbeschäftigung
Archivmeldung vom 02.05.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittPünktlich zum Tag der Arbeit tischen uns die SPD-Kanzlerkandidaten-Kandidaten in trauter Eintracht das Märchen von der Vollbeschäftigung auf - und bekommen dabei auch noch Unterstützung durch den Chef der Wirtschaftsweisen.
Sofern Beck, Steinmeier und Rürup die Reformen der Regierung Schröder loben, ist ihnen ja zuzustimmen. Erst die Agenda 2010 hat aus dem aktuellen Aufschwung einen echten Jobmotor gemacht. Aber was genau tut eigentlich die jetzige Bundesregierung, um den Arbeitsmarkt weiter zu modernisieren? Die Minister wissen es, der Weise spricht es zumindest vorsichtig an: praktisch nichts. Warum sich die Arbeitslosigkeit unter diesen Umständen innerhalb der nächsten zehn Jahre halbieren sollte - und erst dann könnte man von Quasi-Vollbeschäftigung sprechen -, bleibt selbst aufmerksamen Betrachtern verborgen. Ohnehin ist Vollbeschäftigung eine ambivalente Sache. Als großes Wort, das soziale Wärme ausstrahlt, macht sie sich gut in den Sonntagsreden jener, die sich "nah bei den Menschen" wähnen. Doch draußen im Land fürchtet man sich zuweilen vor ihr: Ein-Euro-Jobber und Menschen in Weiterbildungsmaßnahmen etwa sind zwar "voll beschäftigt" und belasten insofern auch nicht die Arbeitslosenstatistik. Aber arbeitslos fühlen sich die Leute doch. Teilzeitstellen boomen und führen das Land näher an die Vollbeschäftigung heran. Doch sehr viele Teilzeitjobber würden gerne länger arbeiten. Leiharbeiter schuften 40 Stunden pro Woche und bekommen dafür 1000 bis 1500 Euro netto. Wer sich in dieser Situation eine Familie leistet, ist wohl voll beschäftigt, aber leider auch arm dran. Und dann sind da noch die Branchen, die händeringend nach Fachkräften suchen und keine finden. Es klingt paradox, aber dort bedroht Vollbeschäftigung auf längere Sicht sogar sichere Arbeitsplätze. Es kommt also nicht nur darauf an, dass es Beschäftigung gibt, sondern auch, was das für eine ist und wo sie entsteht. Vor allem brauchen wir hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Dazu müssen Staat und Wirtschaft in Bildung investieren. Darauf, dass sich die Arbeitslosigkeit von selbst auflöst, weil die Gesellschaft altersbedingt schrumpft, sollte man sich genauso verlassen wie auf das Erscheinen der guten Fee im Märchen: gar nicht.
Quelle: Westdeutsche Zeitung