BERLINER MORGENPOST: Assimilation ist bloß ein Kampfbegriff
Archivmeldung vom 01.03.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSelten ist ein ausländischer Staatbesucher in Deutschland so selbstbewusst aufgetreten wie der türkische Ministerpräsident Receep Tayyip Erdogan. Man kann seine erneute Rede vor Tausenden von Türken - mit Pässen, die den Halbmond oder den deutschen Adler zieren - aber auch als Provokation verstehen. Ähnlich seinem kämpferischen Auftritt vor drei Jahren in Köln hat er in Düsseldorf erneut wider besseres Wissen vor einer zu weit gehenden Integration seiner Landsleute und derer gewarnt, die sich mittlerweile zur deutschen Staatsbürgerschaft bekennen.
Der Regierungschef aus Ankara weiß sehr wohl, dass es bei allen Integrationsbemühungen in Deutschland nicht um Assimilation, also um die Aufgabe aller ererbten Wurzeln geht, wie Erdogan erst suggerierte und dann scharf verurteilte. Sondern darum, den hier lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen die Chance für ein gleichberechtigtes Leben in dem von ihnen freiwillig gewählten Land zu eröffnen - das für nicht wenige eine zweite Heimat geworden ist. Dass dazu das Erlernen der deutschen Sprache eine Grundvoraussetzung ist, scheint mittlerweile auch Erdogan begriffen zu haben. Doch er geht an den Realitäten des hiesigen Lebens vorbei wenn er verlangt, das Erlernen der türkischen Sprache müsse Vorrang haben vor dem der deutschen. Zweisprachigkeit noch vor der Einschulung wäre optimal. Doch angesichts des Bildungshintergrunds vieler türkischer Familien ist das eher irreal. Alle leidvolle Erfahrung zeigt denn auch, dass die Jugend - mit welchem Migrationshintergrund auch immer - ohne Beherrschung der deutschen Sprache weder beruflich noch gesellschaftlich eine wirkliche Chance hat. Deshalb ist das Erlernen der deutschen Sprache - auch mit massiver staatlicher Unterstützung - wichtiger als die der Vorfahren. Wenn Erdogan zugleich verlangt, Berlin solle alle Integrationsfragen mit Ankara absprechen, mischt er sich in unzumutbarer Weise in die deutsche Innenpolitik ein. Seine Düsseldorfer Rede ist der erneute Beleg dafür, dass das Eingehen auf eine solche Forderung nicht zum Besseren, sondern wohl zum noch Schlechteren führen würde. Er schürt eine Stimmung, die mehr auf das Gegensätzliche, auf Konfrontation setzt, als auf ein verständnisvolles Miteinander. Auch dem Begehren seines Landes nach einem EU-Beitritt sind Veranstaltungen wie die in Düsseldorf wenig förderlich. Es wäre aus globalstrategischer wie - etwas bescheidener - nahöstlicher Sicht wohl wünschenswert, die Türkei als EU-Partner zu gewinnen. Aber auch aus gesellschaftspolitischer Sicht? Können wir wirklich sicher sein, dass unsere bewährten Werte nicht in unzumutbarer Weise aufgeweicht würden? Die Entscheidung über einen möglichen EU-Beitritt steht noch lange nicht an. Erdogan tut derzeit wenig, Befürchtungen auszuräumen, Vertrauen zu mehren und damit ein positives Votum zu befördern. Warum also Auftritte wie der in Düsseldorf? Doch nur eine Wahlkampfrede, da in der Türkei Ende Juni Parlamentswahlen anstehen? Oder etwa der Versuch, seine Landsleute als Druckmittel zu gewinnen und zu mobilisieren, wenn irgendwann die EU-Entscheidung ansteht?
Quelle: BERLINER MORGENPOST