Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Voyeur-TV
Archivmeldung vom 11.02.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Macher der britischen Ausgabe von »Big Brother« suchten Soldaten, die im Irak oder Afghanistan ein Bein oder einen Arm verloren. Mit dem Elend dieser Männer wollten sie die Einschaltquote hochtreiben. Ein krasses Beispiel für Voyeur-TV, die Antwort der Privatsender auf wegbrechende Werbeeinnahmen.
Die Wirtschaftskrise lässt das Fernsehen verflachen. Einsame (»Bauer sucht Frau«) und Verzweifelte (»Super Nanny«) bevölkern regelmäßig das RTL-Programm, gescheiterte Gaststättenbetreiber lassen sich mal mehr, mal weniger bereitwillig von Restauranttester Christian Rach die Richtung vorgeben. Pro7 setzt auf Fleischbeschau in der »Model-WG«, Kabel1 auf den »Immobilienfürst«, der die Häuser derjenigen verkauft, die sich die Raten nicht länger leisten können. Und RTL2 strahlt die nächste »Big Brother«-Staffel aus - 148 Tage lang Überwachung mit der Kamera. Drei Stunden und 27 Minuten schaut der Deutsche täglich fern und bekommt so viele Dokusoaps vorgesetzt wie nie. Die Behauptung der Privaten, sie wollten das wahre Leben abbilden, ist nur die halbe Wahrheit. Sie wollen aus Sensationslust und Schadenfreude auf Kosten anderer Kapital schlagen. Das gab jüngst der RTL-Unterhaltungschef Tom Sänger offen zu: Die Castingshow »Deutschland sucht den Superstar« sei eine »Symbiose aus Exhibitionismus und Voyeurismus«. Die Kandidaten wüssten, was sie tun. RTL, Sat1 und Co. fehlt zudem schlicht das Geld, um neue, teure Shows auf die Beine zu stellen und aufwendige, wertvolle Filme zu drehen. Sparen beim Etat bedeutet eben auch Sparen am Programm. Und weil Bauer Josef viel günstiger ist als ein prominenter Schauspieler, tummeln sich Namenlose auf der Mattscheibe. Die Privaten seien zu »Gärtnern der Seichtgebiete« geworden, beklagt Journalist Michael Jürgs treffend. Statt Information böten die Privaten »Rotlicht und Blaulicht«, witzelt ARD-Programmdirektor Volker Herres. Er hat gut lachen, ist doch die ARD vom Rückgang der Werbeeinnahmen sehr viel weniger betroffen als ihre private Konkurrenz: Die öffentlich-rechtlichen Sender bekommen jährlich mehr als 7,5 Milliarden Euro Gebühren. Das setzt sie in die Lage, 2010 viel mehr ambitionierte, teure Streifen auszustrahlen als die Privatsender. Deren Geldmangel kann aber nicht entschuldigen, dass sie mit ihrem Programm den Voyeurismus in der Gesellschaft schamlos schüren. Menschen vor Kameras lächerlich zu machen, verstößt gegen die Würde. Weil Gefühle verletzt würden, forderten Direktoren der Landesmedienanstalten schon 2009 die Sender zu einer »Selbstverpflichtung zur Einhaltung moralisch-ethischer Regeln bei Dokusoaps und Castingshows« auf. Verbunden mit der Hoffnung, dass bei uns nicht schon bald verwundete Bundeswehrsoldaten der Quote wegen vorgeführt werden.
Quelle: Westfalen-Blatt