Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Filmfestival in Cannes
Archivmeldung vom 15.05.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs gibt zwei Filmfestivals in Cannes. Eines für die Freaks, ein zweites für dich und mich. Du und ich, wir freuen uns darauf, dass Woody Allen an der Côte d'Azur Schabernack treibt, und wir überprüfen, ob Michael Douglas die Verurteilung seines mit Drogen handelnden Sohns verwunden hat. Und wer sieht besser aus unter Palmen: Naomi Watts oder Diane Kruger?
An Stars herrscht kein Mangel in Cannes. Nur ihre Filme, die laufen eben nicht im Wettbewerb, die laufen außer Konkurrenz. Der Wettbewerb ist für die Freaks. Ein Hausmädchen verstrickt sich in der Villa einer Upper-Class-Familie in erotische Bande: ein Beitrag aus Südkorea. Männer schreien in einem malträtierten Land: ein Film aus dem Tschad. Schauen wir lieber nach Ungarn, das liegt uns zumindest geographisch näher: Wir sehen einen 17-Jährigen, der aus dem Heim entweicht, aber seine Mutter will ihn nicht - »Tender Son« greift angeblich die Leidensgeschichte von Frankensteins ungeliebt in der Nacht verschwindendem Monster auf. Der Engländer Ken Loach entdeckt die Problematik des Kriegs im Irak, und der Franzose Bertrand Tavernier steckt eine schöne Adlige in schöne Kleider und verschwindet mit ihr im Jahr 1562. Großes Kino? Na ja. Der Rest ist Schwermütiges, kaum Verdauliches, arg Verkopftes aus Mexiko, China, aus der Ukraine und dem Iran. Der Freak sitzt im Kinosessel und schreibt eifrig mit. Für sein Referat mit Diavortrag im Multikulti-Verein. Volker Schlöndorff, dem wir eindrucksvolle Bilder zur »Blechtrommel« verdanken (lang, lang ist's her . . .) hat Cannes als »Abschussrampe« für US-Filme gegeißelt. Cannes sei zum »riesigen Marketing-Unternehmen« verkommen. Das wirkt zunächst ein wenig ungerecht, denn es ist ja nur ein einziger Hollywood-Beitrag im Rennen: »Fair Game«. Worum es geht? Um den Irakkrieg. Zum Gähnen. Aber da sind ja noch die eingangs erwähnten Stars aus Amerika. Die nutzen tatsächlich den Ruf, den sich Cannes in jenen fernen von der Sonne des Erfolgs beschienenen Jahrzehnten westeuropäischer Filmkultur erworben hat: Sie drücken sich um das unwägbare Urteil einer schwer einzuschätzenden Jury herum und machen Party mit »Robin Hood«, mit Komödie und sonstigem Mainstream. Das ist feige, aber der Lauf der Filmwelt. Zum Schluss blicken wir noch einmal zurück auf die Berlinale. Warum leiden sie dort eigentlich unter Minderwertigkeitskomplexen? Dafür gibt es keinen Grund. Jeder will nach Berlin, nach Cannes wollen, nein: müssen die Stars. Berlin hatte 2008 die »Rolling Stones« zu Gast. Und was macht Cannes? Es lädt Jagger & Co. ein! Nur die Freaks am Strand reden über Filme, statt dessen laufen alle Handys heiß: Weißt du, ob die »Stones« vor dem Filmpalast ein Konzert geben?
Quelle: Westfalen-Blatt