WAZ: Authentisch und fair
Archivmeldung vom 07.09.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 07.09.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittKaum vorstellbar ist das Schicksal der 18-jährigen Natascha Kampusch. Die Hälfte ihres Lebens verlor die junge Frau im Verlies des Entführers, der sie als zehnjähriges Kind verschleppte. Nur ein glücklicher Zufall wollte es, dass sie entkam.
Der Fall hat uns alle tief angerührt, er ist zugleich aber auch
eine Bewährungsprobe, in deren Kern - vielleicht unbequeme - Fragen
nach Verantwortung und Respekt vor Menschen stehen: Wie geht die
Öffentlichkeit, wie gehen die Medien damit um?
Der Wunsch nach Information ist ja nur zu berechtigt. Wie es zur
Entführung kam, was seitdem geschah, wie sie heute empfindet - es ist
nichts Indiskretes, diese Fragen zu stellen. Aber dabei ist es zu
belassen. Denn diese junge Frau hat ein Höchstmaß an Schutz und
Rücksichtnahme auf ihre Empfindsamkeiten verdient. Sie trug Wunden
davon, solche, die man nicht sieht.
Leider ist das Schicksal der Natascha Kampusch gerade jener
unseriösen Art der Nachrichtenjagd "willkommen", deren Neugier keine
Schranken kennt, die nicht davor zurückschreckt, auch noch das letzte
Intime auf die offene Bühne zu zerren, die womöglich Nachrichten
fälscht. Und das wäre nicht so, gäbe es die gewisse Sensationsgier
nicht, die sich um schamlose Verletzung der Menschenwürde nicht
schert und sich abseits aller Grenzen des Anstands bewegt.
So etwas kommt nicht plötzlich. Es ist ein schleichender Prozess,
der bei der intimsten Schlagzeile anfängt und auf unappetitlichste
Weise bei TV-Quotenjägern in Dschungelcamps endet. Und dass sich
Schamgrenzen allmählich verwischen, hat auch mit dem Verhalten von
"Vorbildern" zu tun. Manch ein Popstar, manch ein Politiker weiß das
Privatleben raffiniert in die Öffentlichkeit zu spielen. Sie
befriedigen Neugier, weil Indiskretionen interessant machen - und sie
selbst nach populistischen Prinzipien davon profitieren.
Weit entfernt von diesem Gehabe jedoch ist die 18-jährige
Österreicherin. Ihr Schicksal darf nicht in ein solches Getriebe
geraten. Unter dem Druck, gegen ihren Willen ihr Innerstes preisgeben
zu sollen, würde sie zerrieben, vielleicht zerstört.
In einem bewegenden Brief hat die 18-Jährige nach ihrer Rettung die Öffentlichkeit um Wahrung ihrer Privatsphäre gebeten: "Lasst mir Zeit, bis ich selbst berichten kann". Jetzt empfand sie wohl, dass die Zeit dafür reif sei. In ihrem Interview spricht Natascha Kampusch über ihre Gefangenschaft und darüber, wie sie diese Zeit verarbeitet, was ihr dabei hilft. Keine Schlüsselloch-Späherei ist es, sondern ein faires Interview mit Informationen, wie es sie authentischer und ehrlicher nicht gibt.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung