WAZ: Es muss nicht immer Goethe sein
Archivmeldung vom 04.10.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBeinahe ist es unglaublich. Die Welt, in der Schnelligkeit alles ist und Elektronik ihr Medium, hört für einen Augenblick auf zu rasen und begeistert sich für Hallen voller Bücher. Ist das echt? Eine altmodische Angewohnheit? Ein erinnernder Reflex, ein nostalgisches Zugeständnis? Oder ist es ein Zauber, mit dem dieses älteste aller Massenmedien Manager, Hausfrauen, Lifestyle-Könige und Schulkinder bannt?
Es muss wohl so sein. Anders wäre kaum zu erklären, wieso im
Zeitalter von Film und Fernsehen, diesen ungleich bequemeren
Informations- und Unterhaltungsquellen, die Bücher nicht längst
ausgestorben sind. Sie sind aber keine Dinosaurier und werden es
aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht. Denn Bücher haben das
Potenzial, mit kleinstem Aufwand Träume zu verwirklichen, und keine
Beschäftigung ist so friedlich wie Lesen. Fast keine.
Bitte keine Missverständnisse - Lesen ist kein Wert an sich. Auch
Triviales wird auf Papier übermittelt, Klatsch und Tratsch und üble
Nachrede, Agitation und jede Sorte Werbung. Das Wort: Der lügt wie
gedruckt! kann nicht zufällig entstanden sein. Doch wer liest,
erwirbt die Kompetenz zu unterscheiden. Das ist vielleicht nicht das
Schönste am Lesen, aber das Wichtigste.
Lesen ist Lernen. Aber auch Glück: Kinder kennen das herrliche
Gefühl, unabhängig von allen anderen wegzutauchen, unbemerkt
fortzugehen und zurückzukommen mit einem wissenden Lächeln.
Lesen ist
Bildung; man kann sie auch als Erwachsener genießen. Wer den Weg als
mühsam scheut, kann klein anfangen. Es muss nicht immer Goethe sein;
Kriminalromane sind der erste Schritt zur Besserung, der nächste ist
vielleicht ein hochgelobter Bestseller oder der Roman, der gerade mit
dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Eine Geschichte, die mit
dem 11. September zu tun hat - und das sollte weniger spannend sein
als ein dubioser Todesfall im dritten Stock?
Lesen ist: eins nach dem anderen tun. Geduld üben. Trotz allem
nicht auf der letzten Seite nachschlagen! Lesen ist Umgang mit
Sprache, ist Gedanken ordnen, ist Denken lernen. Ja, Hörbücher sind
wunderbar, vor allem bei langen Autofahrten. Warum Lesen trotzdem
besser ist? Weil man selbst aktiv sein muss. Weil man Bücher überall
lesen kann, auch ohne Steckdose. Weil man eine Seite noch einmal
lesen darf, und nochmal, und keiner merkt's.
Der wirkliche, letzte Zauber des Lesens aber liegt darin, dass Bücher Freunde sind. Wer liest, ist nicht allein.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung