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Über den Wolken: Frankfurter Soziologe zur latenten Verortungskrise beim Fliegen

Archivmeldung vom 20.12.2013

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.12.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Bild: Dietmar Frericks / pixelio.de
Bild: Dietmar Frericks / pixelio.de

Fliegen ist für viele längst zur Routine geworden. Wer denkt schon darüber nach, um welchen Preis Menschen ihre Flugunfähigkeit und Bodenhaftung überwinden und dass sie ihre Autonomie des freien Agierens in einer bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft aufgeben? Soziologen stellen fest: Fliegen stürzt Menschen in eine „transitorische Verortungskrise“, ohne sich dessen bewusst zu werden. „Beim Fliegen verlässt der Mensch seine raumzeitliche Verortung, er wird unverrückbares Mitglied in einer losen Gruppe, der er sich nicht entziehen kann“, so der Soziologe Prof. Tilman Allert in seinem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ (2/2013).

„Das Bemerkenswerte am Fliegen ist der scharfe Kontrast zwischen maximaler Überwindung von Raumgrenzen und dem Minimum an Eigenanstrengung“, charakterisiert Allert die Situation über den Wolken. Extremer geht es in keinem anderen Verkehrsmittel zu: Das Höchstmaß an Mobilität im Flugzeug versetzt die Passagiere in einen beschäftigungslosen und bewegloses Zustand. Und das bezeichnet der Frankfurter Soziologe als „idiosynkrasieverdächtige Sozialsituation“: „Der Umstand, dass Menschen in einer anonymen Gruppenkonstellation mit erheblich eingeschränkter individueller Handlungsautonomie eingebunden sind, steigert das Bemühen, eigenwillige normative Strukturierungen der Situation zu entwerfen, normalitätsentlastet und in der Extraterritorialität befreit vom Sanktionsdruck der gewohnten ‚significant others‘.“

Sechs Reaktionstypen sind – nach Allert – zu beobachten: Flugreisende, die die Situation als handlungsentlastend empfinden, die Auszeit genießen und sich ihren Tagträumen hingeben. Dann die Querulanten, die bewusst abweichendes Verhalten zeigen, sich über irgendwelche nichtigen Dinge oder den schlechten Service lautstark beklagen und so die erzwungene Untätigkeit versuchen zu kompensieren. Der dritte Typus überdeckt die enge unbehagliche Zwangssituation mit besonderer Kommunikationsfreude, sprich mit Geschwätzigkeit. Dazu schreibt der Soziologe: „Dadurch treten diese Menschen aus der Anonymität der Mitgliedschaft aus und unternehmen Versuche vorübergehender Geselligkeit – nicht nur unter ihresgleichen, sondern auch mit dem Servicepersonal, das unter diesen Voraussetzungen den Wunsch nach individueller Ansprache und Kommunikation mit der gleichzeitig wirksamen Verpflichtung zur Gleichheit in der Kundenbetreuung zu überprüfen hat.“ Zur vierten Gruppe: Diese Passagiere nutzen das „normative Niemandsland des Fliegens“, um eine sublime Form der Flegelei und Vulgarität zu erproben – und nicht selten auch zu kultivieren. Sie nehmen sich Dinge heraus, die sie sich mit beiden Beinen auf der Erde nicht trauen würden. Der fünfte Typus neigt zur exzessiven Konsumfreude: Die Aura des Außeralltäglichen („Der Himmel steht ihm offen!“) scheint ihm die Legitimation zu verleihen, einfach mehr zu kaufen, als er es gewöhnlich tun würde. Und als letzte Gruppe stellt Allert noch die Menschen vor, die auf den Verlust der Bodenhaftung panisch reagieren: „Nicht etwa die Technologie des Flugzeugs, die Erschütterungen bei Start und Landung oder Ähnliches, vielmehr die konkretistisch wahrgenommene Entfernung von ‚significant others‘ beschwört die Panik herauf. Somit kristallisiert sich in der Flugangst eine Disposition gewordene Sehnsucht nach Verortung.“ Es kann also nicht verwundern, dass der Frankfurter Soziologe das Fliegen als „transitorische Verortungskrise“ bezeichnet!

Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main (idw)

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