"Man hat bei jedem Abbruch das Gefühl, dass man emotional den Leuten etwas wegnimmt, was einem nicht zusteht"
Archivmeldung vom 15.06.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićFast ein Jahr ist die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal her. An vielen Stellen ist die Zerstörung noch sichtbar, der Wiederaufbau stockt immer wieder. Die Erschöpfung ist bei vielen Menschen vor Ort spürbar.
Maximilian Gölitzer hat ein Unternehmen für Abbrucharbeiten in Wiesbaden und erzählt im SWR3 Interview, wie anders es sich anfühlt, dort oder im Ahrtal ein Haus abzureißen: "Der Unterschied ist: Normalerweise sind solche Dinge über Monate oder Jahre geplant. Das Haus kommt weg, weil es altersbedingt ersetzt wird. Hier war eine Nacht der ausschlaggebende Punkt und die Leute haben auf einen Schlag ihre komplette Existenz verloren.
Deswegen ist die emotionale Ebene hier im Ahrtal ganz anders, als wenn man daheim arbeitet. Jedem der mich fragt, ob ich hier gerne arbeite, sage ich 'Eigentlich nein' [...] Man hat bei jedem Abbruch das Gefühl, dass man emotional den Leuten etwas wegnimmt, was einem nicht zusteht." Zuhause sei das Geld einfacher verdient. Die Projekte seien über Monate geplant und es gehe "nur um die Häuser". Im Ahrtal werde man fast zum Seelsorger. Über seine aktuelle Baustelle erzählt er, er habe vorab mit der Eigentümerin des Hauses besprochen, sie solle sich melden, wenn es ihr zu schnell ginge: "Ich mach den Bagger aus, wir machen ne halbe Stunde Pause, wir trinken Kaffee, lassen die Gemüter beruhigen. Und dann schauen wir, wie es weitergeht." Weiter berichtet er: "Du kümmerst Dich auch um die Leute. Weil auch der emotionale Aspekt fast größer ist als die Arbeit."
Von der zerstörten Schule ins Container-Dorf: "Hier sieht es aus wie im Knast"
Die etwa 800 Schüler:innen des Are-Gymnasiums haben ihre Schule durch die Flut im Ahrtal verloren. Seit Beginn des Jahres werden sie in einer Container-Schule unterrichtet, in fast 300 Containern. Diese stehen auf einem Acker am Rande eines Industriegebiets der Gemeinde Grafschaft. Die Hausnummer lautet: 0. In langen Reihen stehen die aufeinander gestapelten minz-grünen Baustellencontainer. Dahinter gibt es drei Hallen, ähnlich wie man sie von Messen kennt: Sporthalle, Mensa und die naturwissenschaftlichen Räume. Ein Schüler beschreibt die Container so: "Hier sieht es aus wie im Knast." Es gebe aber auch einen Lichtblick: "Das W-Lan ist grandios."
Notunterkunft: Zu fünft im Tiny House auf dem Parkplatz
Auch ein Jahr nach der Flutkatastrophe leben noch viele Menschen in Notunterkünften. Alleine 384 Menschen in den Unterkünften des Arbeiter-Samariter-Bundes. Zu den Menschen in den Notunterkünften gehört auch Familie El-Bayyari. Sie lebt zu fünft auf 38 Quadratmetern. Ihr aktuelles "Zuhause" ist eines von 18 Tiny Houses, das auf dem ehemaligen Parkplatz eines Schwimmbads steht, welches bei der Flutkatastrophe zerstört wurde. Nachdem im alten Haus in der Wohnung unter ihnen das Wasser stand, hat sich der Schimmel ausgebreitet und die Kinder waren ständig krank. Elif El-Bayyari erzählt: "Der Mittlere hatte oft eine Lungenentzündung und eine spastische Bronchitis." Seit fünf Monaten lebt die Familie bereits in dem Tiny House. "Die erste Zeit war es auch so: Hier liefen viele rum. Man hat sich gefühlt, wie im Zoo. Die Leute sind hier vorbeigelaufen, als wär' das so ein Spazierweg. Haben dann hier so reingeguckt. Manche haben gefragt, ob die mal hier ins Wohnzimmer reingucken dürfen." Schön findet die Mutter in der "Tiny Hood", wie sie die Notunterkunftsiedlung bezeichnet, "dass die Kinder andere Kinder zum Spielen haben. Weil, dadurch, dass hier viele Kinder leben, spielen die halt draußen, ohne sich zu verabreden. Einer geht raus, der andere kommt hinterher. Die fahren Fahrrad. Und wenn der eine nicht kann, kann der andere." Aber: "auf Dauer ist so ein Tiny House auch mit fünf Personen nicht machbar."
"Ahrtal - Leben nach der Flut" vom 13. bis 17. Juni in SWR3 und auf SWR3.de
Quelle: SWR - Südwestrundfunk (ots)