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"Kriminelle Abzocker - wie machtlos ist der Rechtsstaat?"

Archivmeldung vom 03.01.2022

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.01.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Gericht (Symbolbild)
Gericht (Symbolbild)

Foto von Towfiqu barbhuiya von Pexels

Bundesweit werden viele Opfer von Straftaten enttäuscht, weil die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen einstellt. Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel kritisiert, dass die Justiz so an Ansehen in der Bevölkerung verliere. Er sehe die Ermittlungsbehörden kurz vor dem Kollaps, so Knispel im rbb. "Nicht etwa, weil Polizeibedienstete zu dumm, unfähig oder schlecht ausgebildet sind, sondern unzureichend ausgestattet, sowohl technisch als auch personell, so dass Verfahren teilweise eher oberflächlich bearbeitet werden."

In der Dokumentation "Kriminelle Abzocker - machtloser Rechtsstaat?" ist das Team des rbb-Verbrauchermagazins etlichen Fällen aus der Sendung SUPER.MARKT nachgegangen, in denen Betrugsopfer Anzeige erstattet haben. Die Berliner Kriminalstatistik verzeichnete in den letzten vier Jahren durchschnittlich 80.000 - 90.000 Betrugsfälle pro Jahr.

Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei bedauert gegenüber dem rbb, dass die Anzahl der Mitarbeiter:innen nicht reiche, um alle Fälle zu bearbeiten. "Wenn ich über mehr als 80.000 Betrugsfälle jedes Jahr rede und mir anschaue, wie der Personalkörper aufgestellt ist, muss ich erst einmal feststellen, dass allein in der zuständigen Abteilung für Betrug täglich mehr als 200 Fälle eingehen." Die "Vielzahl an Fällen, mit denen man sich beschäftigen muss", habe eine "Priorisierung" zur Folge. Hinzu käme, dass in der Vergangenheit immer wieder Ermittler aus der Betrugsabteilung in andere Abteilungen versetzt worden sein, um etwa den Bereich Terrorabwehr zu stärken.

Stefan Redlich, stellvertretender Leiter des Landeskriminalamts Berlin, bestätigt: Die Ermittler müssen priorisieren. Demzufolge gibt es viele Betrugsfälle, die vergleichsweise schnell eingestellt werden. "Der Menge an Fällen werden wir Herr, indem wir priorisieren, indem wir uns die Fälle angucken und sehen: Wo gibt es Ermittlungsansätze, die vielversprechend dazu führen werden, dass wir die Täter ermitteln? Oder es ist ein Fall, bei dem wir von vornherein sagen werden, hier können wir wahrscheinlich nicht den Täter finden?"

"Schmale Bearbeitung" heißt so etwas im Jargon der Polizei - und deren Gewerkschaftsvertreter Jendro kennt die Folgen: "Natürlich ist es ein Stück weit eine Aushöhlung des Legalitätsprinzips. Der Rechtsstaat greift nicht in allen Kriminalitätsfeldern. Und die Menschen müssen bei bestimmten Straftaten, die auch in unserem Land passieren, auch mehr damit rechnen, dass das nicht verfolgt werden kann."

Der Sprecher der Berliner Staatsanwälte Ralph Knispel erinnert jedoch an den Anspruch der Bevölkerung auf einen funktionierenden Rechtsstaat "nicht etwa nur für schwerste Verbrechen gegen das Leben, sondern auch für vermeintlich kleine, oft vielleicht nur bagatellhaft erscheinende Delikte. Wenn Menschen bestohlen werden, Einbruchdiebstähle zu beklagen haben, körperverletzt, beleidigt werden ... Auch da hat die Bevölkerung Anspruch darauf, dass der Staat dort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorgeht und diese verfolgt."

Wenn Handwerker eine Leistung versprechen und dafür kassieren, obwohl sie schon wissen, dass sie nicht wie versprochen arbeiten werden, fasst die Polizei solche Fälle mit anderen in der Kategorie "Leistungsbetrug" zusammen. Zuletzt wurden rund 37 Prozent der hier erfassten Taten in Berlin aufgeklärt.

Oberstaatsanwalt Ralph Knispel kennt viele Gründe, warum die Staatsanwaltschaft oft unverhältnismäßig lange braucht bis zur Prozesseröffnung: Aus Kostengründen werde zu sehr am Personal gespart. Zwar habe das Land Berlin seinen Gerichten in den letzten fünf Jahren 89 neue Staatsanwälte spendiert, dafür fehle es aber an Hilfskräften. Ein weiteres Ärgernis sei die unzureichende technische Ausstattung. Immerhin gebe es zwar inzwischen Laptops für die Staatsanwälte, so der Sprecher der Berline Staatsanwälte. "Aber zur Wirklichkeit gehört auch dazu, dass Sie damit nicht ins WLAN-Netz gehen können, sondern das Ganze über einen Mobilfunkbetreiber läuft. Wenn sie in entlegeneren Gegenden außerhalb Berlins wohnen, teilweise auch innerhalb Berlins, haben sie schlichtweg keinen Empfang. Das heißt, sie können mit der Gerätschaft nicht arbeiten." Aus Kostengründen sei auch darauf verzichtet worden, die Software auf zwei parallelen Systemen laufen zu lassen. So müsse bei Wartungsarbeiten das gesamte IT-System zweimal im Monat an einem Werktag ab 17.00 Uhr abgestellt werden. "Hier können Sie dann nicht ernsthaft technisch arbeiten. Wir haben auch Vorführungen beim Ermittlungsrichter, wo dann ein Ermittlungsrichter sagt: Nach 17.00 Uhr kann ich hier leider mit der Technik nicht mehr arbeiten. Das heißt: Sie können auch keine Bundeszentralregisterauszüge anfordern, Sie können keine Protokolle ausdrucken. Das ist die Lebenswirklichkeit, mit der wir zu kämpfen haben."

Polizeigewerkschafter Jendro klingt resigniert, wenn er in der rbb-Dokumentation das Fazit zieht: "Aufgrund des gesetzlichen Rahmens und der heutigen technischen Möglichkeiten und auch der politischen Priorisierung ist der Rechtsstaat relativ machtlos gegen Betrügereien und Betrüger." Staatsanwalt Knispel will weiter für Verbesserungen kämpfen, denn: "Der Rechtsstaat ist und darf nicht machtlos sein. Er wird nicht alle in angemessener Form befriedigen können, aber er ist nicht machtlos."

Der Richter und Strafrechtsexperte Stefan Caspari hofft "auf verbesserte Ermittlungsmöglichkeiten durch Einsatz von zum Beispiel künstlicher Intelligenz, durch Einsatz von mehr Technik im Ermittlungsverfahren und im Strafverfahren. Da muss natürlich auch Geld in die Hand genommen werden, und das muss man einfach mal zusagen. Auch die Justiz kann nicht immer der Sparstrumpf der Länder und des Bundes sein. Das wird eine Mammutaufgabe werden."

rbb-Fernsehen Montag, 03.01.2022, 20.15 Uhr

"Kriminelle Abzocker - wie machtlos ist der Rechtsstaat?"

ARD-Mediathek, rbb-Sendung SUPER.MARKT

Quelle: rbb - Rundfunk Berlin-Brandenburg (ots)

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