Wurde René Descartes ermordet?
Archivmeldung vom 27.10.2009
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.10.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittRené Descartes, einer der wichtigsten Philosophen der europäischen Aufklärung, ist keines natürlichen Todes gestorben. Zu diesem Ergebnis kommt eine soeben erschienene Studie von Theodor Ebert. Der Philosophieprofessor aus Erlangen ist anhand der heute noch verfügbaren Dokumente den Gerüchten nachgegangen, Descartes sei vergiftet worden.
"Durch eine Zusammenführung dieser Zeugnisse ergibt sich ein Bild, das einen Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu sagen, fast sicher macht", meinte er gegenüber dem Humanistischen Pressedienst. Die in den Quellen beschriebenen Symptome widersprächen dem Befund einer Lungenentzündung, die als offizielle Todesursache angegeben wurde. Einiges deute darauf hin, dass Descartes mit Arsenik vergiftet worden sei. Im Gegensatz zu den bislang geäußerten vagen Verdächtigungen kann Ebert zudem einen möglichen Täter präsentieren, der sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit gehabt hätte, den Philosophen zu ermorden.
Nun hat der Erlanger Philosophieprofessor Theodor Ebert ein
Buch vorgelegt, das die Indizienkette schließt. Der Humanistischen Pressedienst (hpd) sprach mit dem
Autor, in einem Interview, über den Fall.
hpd: Dass ein Kriminalfall nach 30 Jahren neu aufgerollt wird, haben wir vor wenigen Wochen wieder einmal erlebt. Aber welche Möglichkeiten zur Aufklärung einer Tat bestehen denn, wenn das mutmaßliche Verbrechen über 350 Jahre zurück liegt?
Theodor Ebert: Die Möglichkeit zur Aufklärung hängt im untersuchten
Fall so gut wie ausschließlich von den zur Verfügung stehenden Quellen
ab. Was diesen Fall angeht, so verfügen wir glücklicherweise über eine
Reihe von Dokumenten sowohl zum Krankheitsverlauf wie auch zur
Einstellung und zur Rolle des vermutlichen Mörders. Durch eine
Zusammenführung dieser Zeugnisse ergibt sich ein Bild, das einen
Giftmord an Descartes in sehr hohem Maße wahrscheinlich, um nicht zu
sagen, fast sicher macht.
hpd: Allerdings spricht gegen die These einer Ermordung Descartes’, dass sämtliche Zeugen aus dieser Zeit, einschließlich des Briefautors Johann van Wullen und des ersten Descartes-Biographen Adrien Baillet, von einem natürlichen Tod ausgehen...
Theodor Ebert: Es war für die Personen in Descartes’ unmittelbarer
Umgebung, aber auch für Adrien Baillet, der vierzig Jahre nach dem Tode
Descartes’ eine sehr faktenreiche Biographie verfasst, kaum möglich,
eine Ermordung Descartes’ zu behaupten. In Stockholm hätte eine solche
Behauptung sowohl für den französischen Botschafter Chanut, bei dem
Descartes Wohnung genommen hatte, als auch für den schwedischen Hof, an
den Descartes von der Königin Christina eingeladen worden war, zu einem
unglaublichen Skandal geführt. Und wer eine solche These aufgestellt
hätte, würde sich möglicherweise um seine Stellung, vielleicht auch um
Kopf und Kragen gebracht haben. Schließlich war eine Tötung durch
Arsenik ohne ein Geständnis des Mörders damals ohnehin nicht zu
beweisen. Den Personen, die am Hof Christinas tätig waren, fehlten im
Jahre 1650 überdies Kenntnisse zu Umständen, die für das Motiv des
vermutlichen Mörders aufschlussreich sind. Charakteristisch ist die
Bemerkung eines der Philologen am schwedischen Hof: „Auf welche Weise
er“ – also René Descartes – „zu Tode gekommen ist, das ist hier
wirklich ein Rätsel.“ Diese Personen konnten allenfalls von der
Vermutung einer Vergiftung berichten und haben das auch getan. Was
Baillet angeht, so ist er zwar im Besitz von Kenntnissen, welche den
Gelehrten an Christinas Hof im Jahre 1650 noch nicht zur Verfügung
standen, aber er kann gerade wegen der Person, die er wohl verdächtigt
– es handelt sich immerhin um einen katholischen Geistlichen – im
Frankreich Ludwigs XIV. einen konkreten Tatverdacht nicht äußern.
Bestimmte Reaktionen auf seine Darstellung lassen aber erkennen, dass
seine Zeitgenossen hinter der Darstellung eines natürlichen Todes durch
Lungenentzündung hier durchaus die Geschichte eines nicht natürlichen
Todes gelesen haben.
hpd: Was steht denn nun „zwischen den Zeilen“ der uns heute vorliegenden Berichte über Krankheit und Tod René Descartes’?
Theodor Ebert: Die wichtigste Information ist die Mitteilung durch
den Arzt Johann van Wullen, dass Descarte s, der über medizinische
Kenntnisse verfügte, während seiner Krankheit ein Brechmittel verlangt.
Bei einer Lungenentzündung oder einer anderen Erkrankung des
Brustraumes wäre das kaum eine angezeigte medizinische Maßnahme – wohl
aber bei einer Vergiftung. Auch die berichteten Symptome sowohl in dem
Brief des Arztes van Wullen als auch in dem Bericht, den Descartes’
Kammerdiener und Sekretär Heinrich Schlüter verfasst, stimmen mit den
Symptomen einer Arsenikvergiftung überein. Beide Dokumente sind
übrigens einen Tag nach dem Tod aufgezeichnet worden.
hpd: Das klingt durchaus plausibel. Bei der Suche nach dem Mörder sind Sie allerdings in stärkerem Maße auf Vermutungen, die sich heute kaum mehr belegen lassen dürften, angewiesen. Was gibt Ihnen die Sicherheit, mit Ihrer These richtig zu liegen?
Theodor Ebert: In der Tat hat man es hier nicht mehr mit Berichten
über beobachtete Symptome und über das Verhalten und die Äußerungen des
Kranken selbst zu tun. Hier geht es vielmehr um Zeugnisse, die
großenteils nicht unmittelbar nach der Krankheit entstanden sind,
sondern oft Jahre, zum Teil auch erst Jahrzehnte später. Jedes dieser
Dokumente für sich genommen würde für einen begründeten Verdacht nicht
ausreichen, aber in ihrer Summe ergeben sie doch einen starken
Verdacht, der über bloße Vermutungen hinausgeht. Anzumerken ist an
dieser Stelle natürlich auch, dass ein Teil der einschlägigen Zeugnisse
erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts publiziert worden
ist und dass sie nicht gerade im Focus der akademischen
Descartes-Forschung standen, weil es sich um kirchengeschichtliche
Texte, um Protokolle der päpstlichen Kongregation Pro propaganda fide,
handelt.
hpd: Und was wäre in Ihren Augen eine akzeptable Widerlegung Ihrer These?
Theodor Ebert: Widerlegt wäre die These, soweit es sich um die Symptomatik der Erkrankung handelt, wenn sich das Krankheitsbild plausibel als durch natürliche Einflüsse verursacht erklären ließe, wenn man insbesondere eine Vergiftung sicher ausschließen könnte. Widerlegt wäre die These, was den vermuteten Mörder angeht, wenn sich für das Verhalten des Verdächtigen selbst wie auch das seiner sozialen Umgebung ihm gegenüber, etwa durch bislang nicht bekannte (oder von mir nicht berücksichtigte) Dokumente, eine plausible alternative Erklärung finden ließe.
hpd: Nun ist die Auffassung, René Descartes sei vergiftet worden, ja nicht völlig neu. Vor rund 15 Jahren hat Eike Pies denselben Verdacht bereits in einem Buch vorgetragen. Damals haben sich zwar die Medien der Sache angenommen, in Fachkreisen scheint die Veröffentlichung aber keine große Wirkung hinterlassen zu haben. In den einschlägigen Biographien ist nach wie vor von einer Lungenentzündung als Todesursache zu lesen. Warum ist das so?
Theodor Ebert: Dass die akademische Descartes-Forschung sich mit der
These von Pies nicht auseinandergesetzt hat, dürfte mehrere Gründe
haben. In erster Linie den Umstand, dass Pies sich für den Entdecker
des Briefes von van Wullen hält, obwohl dieser Brief unter anderem
bereits in der großen Descartes-Ausgabe von Charles Adam und Paul
Tannery publiziert war. Allerdings würde dieser archivalische Irrtum es
noch nicht rechtfertigen, die davon ja unabhängige medizinische
Interpretation dieses Textes durch Eike Pies zu ignorieren. Dafür
könnte der Umstand mitverantwortlich sein, dass Pies bei der
Transkription des Textes von van Wullen ebenfalls Fehler unterlaufen
sind, und dass das Buch auch sonst eine Reihe von Ungenauigkeiten und
unkorrekten Angaben aufweist. Schließlich der Umstand, dass Pies andere
Zeugnisse praktisch nicht berücksichtigt. Allerdings ist die These,
dass Descartes ermordet wurde, für die eher hagiographische und im
Übrigen stark durch katholische Forscher bestimmte französische
Descartes-Forschung auch ein ziemlich harter Brocken. ist allerdings
auch, dass eine vergleichende Analyse der Dokumente zu Krankheit und
Tod Descartes’ in der offiziellen Descartes-Forschung meines Wissens
bisher nie vorgenommen worden ist.
hpd: Nehmen wir an, Sie haben Recht und Descartes wurde vergiftet: Welche Bedeutung hätte das für die Philosophiegeschichte?
Theodor Ebert: In negativer Hinsicht einfach die triviale Bedeutung, dass Descartes’ früher Tod mit 56 Jahren ihn an der Abfassung weiterer Werke gehindert hat. Die meisten der bekannten Philosophen seiner Zeit, die eine ähnlich robuste Gesundheit hatten, erreichen ein höheres Alter: Thomas Hobbes wurde 91, Galilei 77, Gassendi 63, Leibniz 70 Jahre. Spinoza und Pascal sind wegen ihrer kränklichen Konstitution nur scheinbare Ausnahmen. Allerdings würde sich an der Interpretation der zu Lebzeiten Descartes’ wie auch der postum erschienenen Werke selbst dadurch gar nichts ändern. Etwas anders sieht die Sache aus, wenn eine bloße, aber durch bestimmte Umstände nahegelegte Vermutung sich bestätigen ließe, die ich am Ende in einem Postskript vorbringe: Danach hätte der vermutliche Mörder des französischen Philosophen den Anstoß dazu gegeben, dass Descartes auf den „Index der verbotenen Bücher“ kam, also von Katholiken nicht mehr ohne weiteres gelesen werden durfte. Denn mit dieser Zensurmaßnahme war zumindest für die Länder Europas, die durch die katholische Gegenreformation geprägt waren, der Einfluss der cartesianischen Philosophie eingeschränkt, und das ist für die Philosophiegeschichte natürlich von Bedeutung. Aber diese Vermutung bedürfte noch einer genaueren Überprüfung an Archivmaterialien unter anderem in Italien.
Theodor Ebert: Der rätselhafte Tod des René Descartes. Aschaffenburg 2009. Alibri, 236 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-048-7
Quelle: Alibri Verlag / Humanistischen Pressedienst (Die Fragen stellte Martin Bauer)