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HIStory: Die tiefen Spaltungen der Bevölkerung in den USA

Archivmeldung vom 10.01.2023

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.01.2023 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Sanjo Babić
Bild: SS Video: "HIStory: Die tiefen Spaltungen der Bevölkerung in den USA" (https://tube4.apolut.net/w/nNGr7ibxLAPH8PCYSioVJA) / Eigenes Werk
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Willkommen zu einer neuen Folge von HIStory! Nicht mehr neu ist die Erkenntnis, dass die Gesellschaft der USA zutiefst in sich gespalten ist. Konflikte zwischen den Nord- und den Südstaaten. Konflikte zwischen Religionen. Aber am augenfälligsten die Konflikte innerhalb der verschiedenen Völkerschaften, die mehr oder minder freiwillig in die USA eingewandert sind. Heute befassen wir uns mit der komplizierten Beziehung zwischen Schwarz und Weiß in den USA.

Es hat sich in Europa herumgesprochen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Rassismus ein großes Problem haben. Bilder von amerikanischen „Rassenunruhen“ waren in den sechziger Jahren oft in der Tagesschau. Auch weiß man in Europa, dass in Amerika die dortigen Ureinwohner, die Indianer oder Indios, von den europäischen Invasoren nicht gerade anständig behandelt worden sind. Und dass die wenigen überlebenden Indianer heute in ihrer Heimat bestenfalls noch geduldete Zaungäste sind.

Was hat der „weiße Mann“ mit den Indianern gemacht? Was hat er an ihnen verbrochen?

Manche Leute sprechen vom Völkermord an den Indianern. Manche sprechen sogar von „Holocaust“. Das Problem ist: keiner weiß genau, wie viele Indianer in Nordamerika eigentlich gelebt haben, als die europäischen Eindringlinge Ende des Fünfzehnten Jahrhunderts dort eintrafen. Zahlen zwischen 10 Millionen und 110 Millionen Individuen für jene Jahre sind nichts weiter als Schätzungen. Jedenfalls fanden keine großangelegten zentralisierten Kreuzzüge gegen ganze Indianervölker statt. Es gab keine in die Tausende zählenden Schädelstätten. Denn die Indianer waren über das Land verteilt und untereinander zerstritten. Viele Indianerstämme wandten gegen die weißen Eindringlinge Guerillataktiken an. Die kriegerische Dezimierung der Indianerbevölkerung setzt sich zusammen aus einer Unzahl von kleineren Scharmützeln.

Madison Grant, Ostküsten “Aristokrat“ und Sprachrohr der US-Eliten, prahlt mit einer weitaus wirksameren Waffe:

„Solche Sachen wie zum Beispiel Masern, Mumps und Scharlach sind entsetzliche Geißeln für Eingeborenenbevölkerungen ohne Erfahrung mit diesen Krankheiten. Man nehme zu diesen Krankheiten noch Pocken und andere Krankheiten des weißen Mannes, und man hat vor sich den großen Reichserbauer vergangener Tage. Nicht die Schwerter in den Händen von Kolumbus und seinen Nachfolgern dezimierten die amerikanischen Indianer. Nein, es waren die Krankheitserreger, die diese Männer und ihre Nacheiferer mitbrachten. Damit pflanzten sie die Leiden des Weißen Mannes in die Welt des Roten Mannes. Lange vor dem Eintreffen der Puritaner in Neu England wüteten die Pocken entlang der Küste, bis die Eingeborenen nur noch ein gebrochenes Resthäuflein ihrer einstigen Kopfzahl darstellten.“ <1>

Grant unterstellt in seinem Werk eine unterschiedliche Wertigkeit von Rassen. Es ist überhaupt nicht fraglich, dass Grant den jämmerlichen Untergang der Indianer durch Krankheiten der europäischen Eroberer begrüßt.

Die US-amerikanischen Eugeniker Popenoe und Johnson sehen in dem Untergang der nichtweißen Urbevölkerung eine notwendige Etappe auf dem evolutionären Weg zur Herrschaft der höherwertigen weißen Rasse.

Indianer „werden durch natürliche Auslese ausgerottet. Vollstrecker waren die Krankheiten des weißen Mannes und dessen Rauschmittel [Alkohol].“ <2> So vollzog sich auch der Fortschritt in Australien: „Als der letzte Vollblut-Tasmanier 1876 starb, wurde ein neues Kapitel in der Geschichte der modernen Evolution der menschlichen Rasse aufgeschlagen.“ <3>

Die Pocken beseitigen nach Auffassung der Autoren die „minderwertige“ („inferior“) Rasse zugunsten der höherwertigen und vollbringen damit das segensreiche Werk des Fortschritts.

Lange war unklar, ob diese Pockendezimierung der Indianer eine von den Europäern absichtsvoll herbeigeführte Entwicklung war, sozusagen ein früher Fall biologischer Kriegführung, oder ob es sich um ein gerne in Kauf genommenes Zufallsergebnis gehandelt hat. Mittlerweile ist ein Fall bewusster biologischer Kriegführung für das Jahr 1763 dokumentarisch belegt worden. Bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Indianern und Briten, der Pontiac’s Rebellion, überreichte der englische General Amherst zwei Pontiac-Unterhändlern Briefe mit Verhandlungsangeboten, auf die zuvor Pockeninfizierte gehustet hatten.

Die Unterhändler gaben die Briefe an ihre Stammesbrüder zur Ansicht weiter. Eine verheerende Pockenepidemie bei den Pontiac-Indianern war die Folge. Der Gefreite Henry Bouquet schlug General Amherst in einem Brief vom 13.7.1763 vor „to inocculate the Indians“, also: die Indianer zu „impfen“. Denn die „Spaniards Method“, also die Indianer durch Kampfhunde zerfleischen zu lassen, konnte nicht durchgeführt werden, da nicht genug Hunde vorhanden waren. In seiner Antwort vom 16.7.1763 billigt Amherst die „Impfungs“option. Denn wenn die spanische Methode nicht anwendbar ist, sollte man

„jede andere Methode anwenden, die geeignet ist, diese widerwärtige Rasse auszurotten.“ Und Amherst bekräftigt in einem anderen Schreiben vom 27.8.1763, man müsse ein „äußerst wirkungsvolles Ende ihres nackten Daseins“ bewirken.

Das Ende der eigenen kulturellen Identität kam für nahezu alle im 19. Jahrhundert noch in Nordamerika lebenden Indianer durch jenen Vorgang, den man heute mit dem Begriff „ethnische Säuberungen“ zu bezeichnen pflegt. Ganze Indianerstämme siedelte man aus ihren angestammten Gebieten um in weiter westlich gelegene Territorien, wo der weiße Mann keine wirtschaftlichen Interessen verfolgte. Gesetzlich wurde das geregelt durch den Indian Removal Act von 1830. Nach den Vorgaben dieses Indianerentfernungsgesetzes wurden Verträge mit Indianern abgeschlossen, und der „Tausch“ von Land zumindest optisch seines gewaltsamen Charakters entkleidet. Eine Klage der Nation der Cherokee-Indianer gegen ihre Entfernung aus goldhaltigem Territorium wurde vom zuständigen Gericht nicht angenommen. Denn die Cherokee-Nation sei keine Nation und somit auch kein klagefähiges Rechtssubjekt.

Folge: 17.000 US-Soldaten begleiteten 1838 die Cherokees bei ihrem „Trail of Tears“, dem Pfad der Tränen, in die neue Zwangsheimat. 4.000 Cherokee-Indianer kamen dabei ums Leben. In den neuen Reservaten dämmerten die gedemütigten und entwurzelten Indianer vor sich hin. Doch der Ehrgeiz weißer Eiferer war damit noch lange nicht zufriedengestellt. Man wollte den verbliebenen Indianern das Biest des wilden Mannes austreiben.

Professor Ward Churchill, der zum Volk der Cherokee gehört, hat die planmäßige Ausmerzung der indianischen Identität erforscht. Nachdem die US-Behörden zunächst nur mit eigenständigen indianischen Vertragspartnern den Tausch von Territorien vereinbart und vollzogen hatten, wurden die umgesiedelten Indianer ab 1885 mit einem Federstrich zu Untertanen der Vereinigten Staaten von Amerika gemacht. Die Indianer mussten in ihren Reservaten die Gesetze der USA anwenden.

Das hatte unter anderem zur Folge, dass die Kinder der Indianer zwangsweise in Internate außerhalb der Reservate verbracht wurden. Dort mussten sie ihrer indianischen Identität abschwören; englische Namen annehmen; sie durften nur englisch sprechen. Das Bestehen auf indianischer Sprache und indianischen Sitten wurde hart bestraft. Der Indianerbeauftragte der US-Regierung, Richard Henry Pratt, definierte seinen Auftrag wie folgt: „to kill the indian, save the man“ – indem man den Indianer umbringt, rettet man den Menschen im Zögling. Sein Amtsnachfolger Francis Leupp bezeichnete 1910 jene Assimilationspolitik als

„gewaltige Pulverisierungsmaschine zur Ausmerze der Stammesmasse“.

Die Verhältnisse in den Internaten waren verheerend. Die Sterblichkeitsquote war, wie zeitgenössische Untersuchungen ergaben, außerordentlich hoch. Eine Studie nennt die Quote von fünfzig Prozent. <4>

Weiterhin ist den Europäern bekannt, dass die Art, wie in den USA mit Afroamerikanern umgegangen wird, nicht vereinbar ist mit Begriffen von Menschenrecht und Menschenwürde. Dazu zwei Stimmen aus Kontinentaleuropa:

„Bleiben die Weißen Nordamerikas geeint, so lässt sich schwer denken, dass die Neger der ihnen drohenden Vernichtung entgehen; sie werden dem Schwert oder dem Elend erliegen.“ <5>

Die andere Stimme gehört dem Starreporter Egon Erwin Kisch. Der macht 1928 eine Fahrt auf dem Ozeandampfer von Europa in die Vereinigten Staaten von Amerika. Und wie Kisch sich zum Frühstücken in das Bordrestaurant setzt, erlebt er folgendes:

„Im Nebenzimmer war für kinderreiche Familien gedeckt, und dort saß auch, allein an einem Tisch, ein Neger, ein älterer, anscheinend studierter Mann mit Brille und verzehrte seine Mahlzeiten. Darüber wunderten sich einige Europäer und erfuhren, kein Amerikaner würde mit einem colored man, einem Farbigen, an einem Tisch sitzen. Wunderten sich die einigen Europäer weiterhin, so erhielten sie die überlegene Antwort: ‚Sie werden anders über die Niggers denken, wenn Sie erst ein paar Wochen in Amerika gewesen sind!’

Kann sein, kann sein, vielleicht sind nur wir Europäer so närrische ‚sentimentalists’, die Neger auch für Menschen zu halten.“ <6>

Bekanntlich sind die Afroamerikaner nicht freiwillig in die USA eingewandert. Sklaverei gab es in Kontinentaleuropa schon seit der Antike nicht mehr. Da sich aber in Nordamerika die Indianer als Sklaven nicht eigneten, wurden Bewohner vornehmlich aus Westafrika verschleppt und wie Nutzvieh auf den Sklavenmärkten Nordamerikas verkauft. Auf Baumwollplantagen wurden die Sklaven eingesetzt, aber auch im Haushalt ihrer weißen Herrschaften.

Auch bei diesem Thema ist es praktisch unmöglich zu sagen, wie viele Menschen insgesamt aus Afrika entführt und dann verheizt worden sind. Unstreitig ist, dass der Sklavenhandel ein blühender Weltmarkt war. Auch die Väter der glorreichen Verfassung der USA, die so großen Wert legt auf Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, waren selbstverständlich Sklavenhalter – allen voran der freiheitlich gesinnte US-Präsident Thomas Jefferson. Die Rede war ja von der Gleichheit der Menschen. Waren „Neger“ nach deren Logik etwa Menschen?

Die meisten Nordstaaten der USA schafften allerdings im Jahre 1800 die Sklaverei ab. Und 1808 wurde endlich die Einfuhr neuer Sklaven für die gesamten Vereinigten Staaten verboten. Aber erst der verlustreiche Bürgerkrieg zwischen den Süd- und den Nordstaaten brachte 1865 mit dem 13. Amendment ein gesetzliches Verbot der Sklaverei für alle Staaten der USA. Die ersten Jahre nach dem Bürgerkrieg sorgte die erstarkte Zentralgewalt in Washington für die Durchsetzung der Bürgerrechte auch für Schwarze.

 Jedoch erlahmte die Energie, und ab 1876 bauten sich viele Bundesstaaten ein scheinheiliges Hintertürchen, um den Afroamerikanern die Bürgerrechte doch wieder stückweise abzuknöpfen. Die Formel hieß: „separate but equal“ – also etwa: voneinander getrennt und doch gleichwertig. Eine Serie von Gesetzen – die sog. Jim-Crow-Gesetze – legte fest, dass die gleichwertigen  Schwarzen von nun an andere Zugabteile, andere Hauseingänge, andere Kirchen, andere Amtsstuben, andere öffentliche Handwaschbecken und andere öffentliche Pissoirs zu benutzen hatten als ihre ebenfalls gleichwertigen weißen Mitbürger. Weiße durften in einigen Bundesstaaten keine Schwarzen heiraten: das war bei Gefängnisstrafe verboten.

Auch der mutige Einsatz einiger anständiger Amerikaner konnte nicht den Leidensweg aufhalten, den die Afroamerikaner nach ihrer Befreiung von der Sklaverei zu beschreiten hatten. Die dereinst freien Sklavenhalter und Plantagenbesitzer der Südstaaten fühlten sich gedemütigt durch die Niederlage im Bürgerkrieg. Sie mussten jetzt den Befehlen aus Washington gehorchen. Die Landwirtschaft, von Jefferson noch als edelste Form der Wirtschaft gepriesen, war im neugeordneten Zentralstaat zweitrangig. Und wie bei der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik kamen Abenteurer und Freibeuter in das unterworfene Terrain und wussten alles besser. Die ohnmächtige Wut der Plantagenherren und aller anderen Weißen in den Südstaaten benötigte dringend ein Ventil.

Wer eignet sich dafür besser als die dereinst zwangsweise nach Amerika verschleppten Afroamerikaner? Die weißen Herrenmenschen waren heruntergestuft, und „die Neger“ waren heraufgestuft. Heiligabend des Jahres 1865 gründete sich in Pulaski im Südstaat Tennessee der berühmte Ku Klux Klan. Zunächst von ehemaligen Offizieren der konföderierten Südstaatenarmee als Geheimbund gegen die Nordstaaten gegründet, verengte sich die Tätigkeit schnell auf den Terror gegen „Nigger“.

Nachts geisterten die weißen Kutten mit ihren Spitzhüten durch das Zwielicht, um den für primitiv gehaltenen Schwarzen einen Spuk vorzugaukeln. Es kam zu Übergriffen auf Schwarze, und deren Häuser und Kirchen gingen in Flammen auf. Diese erste Version des Ku Klux Klan hatte in ihren besten Zeiten eine halbe Million Mitglieder. Doch die Bundesregierung zeigte Entschlossenheit und löste den KKK 1871 zwangsweise auf.

Dauerhafter als der erste Ku Klux Klan war der unstillbare Drang zur Selbstjustiz. Bis in die 1920er Jahre wurden etwa 3.500 Afroamerikaner, aber auch Iren, Italiener und Juden, Opfer des Lynching. In der Zeit der Sklaverei gab es selbsternannte „Slave Patrols“ – Sklavenpatrouillen – , die jeden frei herumlaufenden Afroamerikaner aufgriffen, aufhängten oder „nur“ auspeitschten. An dieser schönen Sitte hielt man auch nach der Befreiung der Sklaven fest. Der Staat griff nach Auffassung dieser selbsternannten Ordnungshüter nicht richtig durch, so dass der Bürger selber mit anpacken musste. Diese Selbstjustiz offenbart eine ausgeprägt sexualneurotische Seite. Der Männlichkeitswahn des weißen, machtlosen  Machos muss sich an einem wehrlosen Opfer abreagieren.

Denn meistens werden junge schwarze Männer Opfer der Lynch“justiz“. Den Teenagern wird unterstellt, sie hätten ehrbare Frauen aus der Gemeinde vergewaltigt oder gar umgebracht. Die Auffassung, der „Neger“ sei wesentlich potenter und triebhafter als der weiße Mann, mit einem wesentlich größeren Geschlechtsorgan gesegnet, dafür jedoch im Gehirn etwas defizitär ausgestattet, findet sich nicht nur an Südstaatler-Stammtischen, sondern auch in den schriftlichen Äußerungen der Geistesleuchten der Elite-Universitäten von Yale, Harvard und Princeton, die sich übrigens damals energisch gegen die Sklavenbefreiung ausgesprochen haben.

Und die ehrbaren Bürger entwickeln eine erstaunliche sadistische Erfindungsgabe. Sie bringen das Opfer nicht einfach um sein Leben. Sie peinigen es nach allen Regeln der Kunst. Da ist zum Beispiel im Jahre 1916 Jesse Washington aus Waco, Texas. Ein siebzehnjähriger geistig behinderter Afroamerikaner, der sein Geld als Landarbeiter verdient. Angeblich soll er die Vergewaltigung und Tötung einer weißen Frau bereits gestanden haben. Er wird auf den Marktplatz gezerrt, kastriert und verstümmelt. Vor jubelnder Masse, auch unter den wohlwollenden Blicken des Bürgermeisters und des Polizeichefs, wird der Junge mit Schaufeln geschlagen und mit Ziegelsteinen beworfen. Ein Feuer wird entfacht. Den Knaben hängt man an eine Eisenkette und röstet ihn über dem Feuer.

Weinend versucht Jesse, sich an der glühheißen Kette nach oben zu hangeln. Um das zu verhindern, hackt man ihm lachend die Finger ab. Schließlich wird Jesse Washington gehängt. Eine Photographie dieser Peinigung wird als Postkarte in Umlauf gebracht. Auf die Rückseite einer solchen Ansichtskarte schreibt ein humorvoller Bürger von Waco: „Wir hatten letzte Nacht eine Grillparty“.

Das ist kein Extremfall.

Man könnte ganze Bibliotheken füllen mit Berichten über solche Perversionen. Lynching war auf die Südstaaten der USA konzentriert, wurde aber auch in geringerem Umfang im Norden praktiziert. Oft ist das öffentliche Lynching ein gesellschaftliches Ereignis. In Zeiten, da Hinrichtungen in Europa nur noch diskret hinter Gefängnismauern vollstreckt oder ganz untersagt werden, sind Freistilhinrichtungen in den USA beliebte gesellschaftliche Ereignisse.

Der Lokalreporter wird vor dem Ereignis informiert, und das Lynching wird auf eine bestimmte Uhrzeit festgesetzt, damit der Reporter seinen Bericht mit Foto brandaktuell in der Lokalpresse unterbringen kann. Die Zweitverwertung des Lynch-Fotos als Postkarte ist für den aufgeweckten Reporter eine begehrte Einnahmequelle. Das Verschicken von Lynch-Postkarten erreicht einen solchen Umfang, dass der Postminister der USA ihre Versendung mit der Post 1908 offiziell untersagt.

Gelyncht wird auch professionell in Zirkusarenen, ordentlich ausgeleuchtet wie beim Rockkonzert.

Sogar Präsident Theodore Roosevelt, der „Neger“ für eine „unheilbar dumme Rasse“ hält, ist 1903 entsetzt über die Lynch-Mode:

„Alle denkenden Menschen … müssen schwerste Beunruhigung empfinden über die Zunahme des Lynchens in diesem Land, und insbesondere über die ausgesucht abstoßenden Ausmaße, die die Gewalttätigkeit des Mobs häufig annimmt, wenn Farbige die Opfer sind – wobei der Mob weniger wert legt auf das Delikt des Verbrechers als vielmehr auf dessen Hautfarbe.“ <7>

Das kostet Roosevelt nicht nur Wählerstimmen. Er muss auch verstärkten Personenschutz anfordern. Ein Gesetz gegen Lynching hat auch Roosevelt nicht auf den Weg gebracht.

1946 schließlich wird zum ersten Mal in der Geschichte der USA ein Lynchmeister juristisch zur Verantwortung gezogen. Der Polizist Tom Crews aus Florida muss 1.000 Dollar Strafe zahlen und ein Jahr ins Gefängnis, weil er einen schwarzen Landarbeiter durch Lynchen ermordet hatte. Der wackere Ordnungshüter hat vermutlich die Welt nicht mehr verstanden.

Lynchmorde können Einzelpersonen treffen, die einer Dorfgemeinschaft schon länger aufgefallen sind. Neben den sexualpathologischen Motiven kann auch eine Rolle spielen, dass ein Schwarzer eine Metzgerei in einem Ort aufmacht, in dem bereits ein weißer Metzger ein Geschäft betreibt. Oder man will sich die Immobilie eines schwarzen Mitbürgers als Eigentum einverleiben.

Neben der gesetzlosen Hinrichtung von Einzelpersonen findet sich das Abschlachten und Exekutieren der Bewohner eines ethnisch geprägten Stadtviertels. Die Vergrämung und Entfernung einer vermeintlichen Parallelgesellschaft ist das Ziel. Es kommt nicht nur gelegentlich zu scheinbar spontanen Explosionen einer unduldsamen Mehrheit gegen eine geächtete und gefürchtete Minderheit. Diese Gewitter sind unverzichtbare Instrumente des Druckausgleichs in der nie zur Ruhe kommenden US-Gesellschaft. Und die Afroamerikaner bleiben über die Jahrhunderte das bevorzugte Ziel dieser Entladungen, die man ohne weiteres als Pogrome bezeichnen kann.

Und zwar keine von paramilitärischen SA-Einheiten mühsam inszenierten Pogrome ohne Beteiligung des Volkes. Sondern spontane, aus echtem volkstümlichen Bedürfnis entsprungene Pogrome.

Fünf Beispiele sollen uns genügen.

  1. Die New York Draft Riots vom 13. bis zum 16. Juli 1863. Für den Bürgerkrieg ziehen die Nordstaaten zwangsweise Soldaten ein. Für 300 Dollar kann man sich von der Wehrpflicht freikaufen, wenn man einen Ersatzmann stellt. Die kleinen Leute sind zu recht wütend. Sie schimpfen: „Das ist der Krieg des reichen Mannes, und der kleine Mann muss ihn ausfechten“. Es kommt zu Unruhen. In New York eskalieren die Unruhen zur Revolte. Präsident Lincoln schlägt den Aufstand mit regulären Truppen nieder. Die Aufständischen wechseln das Thema. Sie stürmen die Wohnviertel der Afroamerikaner, zünden Häuser an und massakrieren die Bewohner. Die überlebenden Schwarzen finden in dem damals noch nicht zu New York gehörenden Harlem Schutz.
  2. Die Ummünzung einer sozial motivierten Wut in blindwütigen Rassenwahn gelingt auch 1887 in Louisiana. 10.000 Arbeiter auf Zuckerplantagen, schwarz und weiß gemeinsam, streiken für mehr Lohn. Louisianas Gouverneur Samuel Douglas ermahnt die weißen Streiker: „Gott der Allmächtige persönlich hat eine Rassenlinie gezogen!“ Douglas läßt zunächst Militär auf die Streikfront los. Als ein rassistischer Lynchmob formiert ist, zieht der Gouverneur seine Truppen zurück, damit der Mob ungestört seiner Leidenschaft frönen kann. 300 Schwarze werden auf einen Streich gelyncht.
  3. Nicht zuletzt aufgrund solcher traumatischen Erfahrungen ziehen immer mehr Schwarze in die Nordstaaten. Dort allerdings erregen sie Unwillen. Die weißen Arbeiter fürchten die Schwarzen als mögliche Billig-Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Ausgerechnet die Arbeiter von East St. Louis, die in der Vergangenheit gleichermaßen umsichtige wie erfolgreiche Arbeitskämpfe durchgeführt hatten, sehen im Ersten Weltkrieg rot, als in den Metallfabriken immer mehr Afroamerikaner Lohn und Brot finden. Bei einer Arbeiterversammlung am 28. Mai 1917 gelingt es interessierten Kreisen, gleichermaßen bösartige wie unsinnige Gerüchte zu lancieren. Wieder einmal wird die sexualneurotische Karte ausgespielt: eine Fraternisierung zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen im großen Maßstab sei gerade im Anzug. 3.000 wutschnaubende Macho-Arbeiter ziehen durch die Stadt und verprügeln jeden Schwarzen, dessen sie habhaft werden. Sie zünden Häuser an. Zunächst gelingt es der Nationalgarde, diesen Unsinn zu beenden. Jedoch werden neue Gerüchte gekocht: „die Schwarzen“ planten einen durchorganisierten Überfall. Als sich am 1. Juli ein Afroamerikaner durch einen Warnschuss gegen die Attacke eines weißen Angreifers zur Wehr setzt, schaukelt sich die Situation auf. Völlig verängstigt erschießt der Schwarze zwei Polizisten. Am nächsten Morgen stürmt ein weißer Mob das schwarze Wohnviertel und zündet Häuser an. Die Schläuche der Feuerlöschzüge werden zerschnitten. Leute, die aus den brennenden Häusern fliehen, werden wie Tontauben abgeschossen. Dazu der Ruf: „Südstaaten-Nigger verdienen ein stilgerechtes Lynching!“ Auch die Gardisten machen jetzt mit.
  4. 1919 paddelt der Afroamerikaner Eugene Williams im Gewässer vor Chicago herum. Er gerät in einen Sektor, den die Weißen als ihr Revier ansehen. Ein Weißer am Ufer trifft Williams mit einem Stein am Kopf. Der verliert das Bewusstsein und ertrinkt. Afroamerikaner, die den Vorgang beobachtet haben, fordern einen dabeistehenden Polizisten auf, den Steinewerfer zu verhaften. Der Polizist tut nichts. Die Schwarzen werden gegen den Polizisten handgreiflich. Das veranlasst einen weißen Mob am 27. Juli 1919, mit Baseballschlägern bewaffnet in Wohngebiete der Afroamerikaner einzudringen, um dort zu morden und zu brandschatzen. Als die 6.000 Nationalgardisten am 30. Juli endlich die Pogrome in den Griff bekommen, bleiben auf der Strecke: 38 Tote, 537 Verletzte. 1.000 Bürger von Chicago sind ohne Obdach.
  5. Die Afroamerikaner setzen sich zur Wehr. In Tulsa im Bundesstaat Oklahoma sitzt 1921 der schwarze, neunzehnjährige Dick Rowland wegen des Verdachts, einen Überfall begangen zu haben, in Untersuchungshaft. Ein weißer Mob holt Rowland aus dem Gefängnis, um ihn zu lynchen. Eine Gruppe Afroamerikaner stellt sich ihnen in den Weg. Es kommt zum Handgemenge. Ein schwarzer Kriegsveteran schießt auf einen Weißen. Die Antwort der weißen Bevölkerungsmehrheit lässt nicht lange auf sich warten. Im Wohnviertel der Schwarzen werden 1.256 Häuser und 200 Geschäfte niedergebrannt. Die Jagdstrecke: 39 Tote. Davon 26 Schwarze und 13 Weiße. Diesmal benutzten Weiße Flugzeuge, um von dort auf Schwarze zu schießen und ihre Opfer mit Dynamitstangen zu bombardieren.

Wir könnten beliebig fortfahren. Das ist aber sicher ausreichend, um die Größenordnung dieses endlosen wie unerbittlichen Rassenkrieges in einem scheinbar zivilisierten Land deutlich zu machen.

In der  – vorwiegend weißen – Geschichtsschreibung wird immer wieder das Bild der duldsamen, wehrlosen „Neger“ gezeichnet, die alles mit sich machen lassen wie das liebe Vieh. Auch dies ist ein Bestandteil jener größeren weißen Erzählung, der „Neger“ sei unfähig, Dinge zu ordnen und irgendetwas zu organisieren. In seiner beklagenswerten Situation befände er sich, weil er so unheilbar faul sei.

Popenoe und Johnson verkünden vom Professorenkatheder: „Neger“ sind genetisch minderwertig und können nur in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Wenn von intelligenten „Negern“ gesprochen wird, dann handelt es sich um „Mischlinge“, und die Intelligenz komme allein von den weißen Anteilen. Und Rassen-Geopolitiker Lothrop Stoddard befindet: die „Neger“ haben die Stufe der Barbarei nie verlassen. Sie brauchen einen weißen Master, denn sonst sind sie völlig hilflos.

Unermüdlich haben sich die schwarzen Sklaven um Weiterbildung bemüht. Lewis Adams war ein befreiter Sklave, ein wissensdurstiger Autodidakt. Auf sein unermüdliches Betreiben hin wird 1881 mit dem Tuskegee Institute die erste Pädagogische Hochschule für Afroamerikaner gegründet. Booker T. Washington wird ihr erster Direktor. Washington avanciert zu einem intellektuellen Wortführer der Afroamerikaner. W.E.B. Du Bois ist ein anderer Wortführer der Afroamerikaner. Schließlich sei noch Marcus Garvey genannt, stellvertretend für viele andere geistige Kapazitäten der schwarzen Community. Die Beziehung zwischen den drei Denkern war voller Spannungen, Differenzen und auch Eifersüchteleien. Es ging unter anderem darum, inwieweit die Afroamerikaner Bündnisse mit den Weißen, und insbesondere mit dem weißen Establishment, eingehen dürften.

Und auch hier bewährte sich Cäsars Rezept: Teile und Herrsche! Es kam zu unterschiedlichsten rassischen Vermischungen. Und für jedes Mischungsverhältnis gab es eigene Fachbegriffe und auch eigene Nischen. Eine richtige Hackordnung bildete sich heraus. Da gab es Nachkommen aus der Kombination schwarz-weiß – diese Personen nannte man Mulatten. Ob das Wort sich ableitet aus dem Arabischen, oder eher aus dem spanischen Wort für Maultier, ist nicht geklärt. Ein Quadroon (in etwa: Viertel“neger“) ist ein Mensch, der aus der Verbindung weiß mit Mulatten hervorgegangen ist. Ein Octroon (Achtel“neger“) ist der Nachkomme aus einer Kombination weiß mit Quadroon. Ein Mestize ist hervorgegangen aus der Verbindung von Indianern mit Schwarzen. Es gab für jede dieser Kombinationen Interessenvertretungen in Form von Vereinigungen. Und ähnlich wie in Lateinamerika grenzten sich diese Gruppen gegeneinander ab und schauten argwöhnisch oder überheblich auf die anderen Gruppen.

Aber all diese Gruppen und Subgruppen wurden bei der weißen Herrenschicht gleichermaßen geringschätzig als „Mongrels“ abgetan. Man spielte die Gruppen natürlich gerne gegeneinander aus, wie der Bluessänger Big Bill Broonzy in einem Refrain formuliert:

„Wenn du weiß bist, bist du in Ordnung,

wenn du braun bist, bleib in Rufweite.

Aber wenn du schwarz bist:

Hau ab! Hau ab! Hau ab!“ <8>

Trotzdem waren sie alle eben nur „Farbige“, und sie mussten den Dienstboteneingang benutzen und separate Pissoirs aufsuchen.

Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen

<1> Madison Grant, The Passing of the Great Race. New York 1916

<2> Paul Popenoe, Roswell Hill Johnson: Applied Eugenics, New York 1925, Seite 130

<3> a.a.O. Seite 132.

<4> Ward Churchill: Wie man es auch nennt, es bleibt Völkermord: nordamerikanische Heimschulen für indianische Kinder im Kontext. S. 91-133. In Jones, Adam: Völkermord, Kriegsverbrechen und der Westen. Berlin 2005

<5> Alexis de Tocqueville, zitiert nach Gert Raeithel, Geschichte der Nordamerikanischen Kultur, Band II, Seite 7

<6> Egon Erwin Kisch, Paradies Amerika, Berlin 1949,  Seite 7

<7> Offener Brief Roosevelts an den Gouverneur von Indiana, Winfield Durban.

<8> https://www.youtube.com/watch?v=FYSERmlOxGA

Quelle: apolut

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