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„Stimme Russlands": Freiwilligen-Mythos: Europäische Kollaborateure in Waffen-SS

Archivmeldung vom 21.12.2013

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 21.12.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Waffen-SS-Division „Das Reich“, Sowjetunion 1942
Waffen-SS-Division „Das Reich“, Sowjetunion 1942

Foto: Bundesarchiv, Bild 101III-Hoffmann-04-23 / Hoffmann
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-de
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Die Journalistin Irina Popowa schreibt in einem kürzlich auf Radio "Stimme Russlands" erschienenen Bericht: "In heutigen Forschungen und Diskussionen über den Zweiten Weltkrieg kommt dem europäischen Widerstand gegen die NS-Besatzung traditionell eine besondere Bedeutung zu. Es gab jedoch auch eine andere Seite des gesellschaftlichen Lebens in Europa in der Kriegszeit, über die viel weniger diskutiert wird, nämlich die Kollaboration."

Popowa berichtet weiter: "Dr. Martin Gutmann, Professor an der Universität Luzern (Schweiz), hat sich mit einem Aspekt der europäischen Kollaboration näher auseinander gesetzt – mit den ausländischen Freiwilligen in der Waffen-SS. In seiner im November veröffentlichten Studie „Ausländische Freiwillige im Offizierskorps der Waffen-SS: Mythos und Wirklichkeit“ untersucht er die Herkunft, die Motivation und den Werdegang dieser Männer in der Vorkriegszeit.

Flemming Helweg-Larsen war in den 1930er Jahren ein bekannter dänischer Schriftsteller und ein erfolgreicher Übersetzter. Der junge Mann reiste gerne und ab und zu betätigte er sich als Journalist in Kopenhagen. Er war kein NS-Mitglied, bekanntermaßen hatte er auch keine Kontakte zu rechtsradikalen Bewegungen und im Übrigen fiel er nicht besonders auf. Doch meldete sich der 30-jährige Däne 1941 zum freiwilligen Dienst bei der Waffen-SS, den militärischen Verbänden der Schutzstaffel der NSDAP. Dank seinem starken Charakter und seinen großen Ambitionen wurde er schnell zu einem einflussreichen Kriegskorrespondenten, kämpfte dann an der Ostfront, und 1943 beteiligte er sich an dem von der SS entfesselten Terror in seinem Heimatland. Drei Jahre später wurde Helweg-Larsen als erster von 46 dänischen Kollaborateuren hingerichtet.

Sein Schicksal ist an sich aus einer historischen Perspektive interessant. In gewissem Sinne ähnliche Schicksale haben jedoch auch Tausende anderer seiner Landesleute sowie auch Bürger der anderen skandinavischen Staaten und der Schweiz in der Vorkriegszeit und in den Kriegsjahren erlebt. Im Zweiten Weltkrieg dienten zwischen 6.000 und 8.000 Dänen als Freiwillige in der Waffen-SS, wobei sich noch etwa 6.000 weitere Menschen zwar zur Waffen-SS gemeldet haben, dort jedoch nicht angenommen worden sind. In der Schweiz und Schweden war die Zahl der Freiwillen dagegen relativ gering – jeweils etwa 1.300 und 300 Soldaten.

Die Zahl der ausländischen Freiwilligen in der Waffen-SS wird allerdings immer noch unterschiedlich eingeschätzt – je nachdem, auf welche Quellen man sich beruft. Durchschnittlich kann man davon ausgehen, dass sich über 200.000 Ausländer freiwillig zum Dienst in der Waffen-SS gemeldet haben, darunter ca. 10.000 Menschen aus den neutralen Staaten. Die Zahl ist eigentlich nicht enorm groß, aber im Vergleich zum Umfang der Widerstandsbewegungen in Europa ist sie doch größer. Beispielsweise haben sich in Dänemark nur etwa 1.000 Menschen der Widerstandsbewegung angeschlossen.

Freiwillige aus neutralen Staaten haben in verschiedenen SS-Divisionen gekämpft und wurden praktisch an allen Frontabschnitten eingesetzt, vor allem aber an der Ostfront. So dienten dänische Freiwillige im Infanteriebataillon der SS-Division „Totenkopf“ und waren an der Kesselschlacht von Demjansk im Juli 1942 beteiligt. Ein Jahr später wurde das Panzergrenadier-Regiment „Danmark“ in der neu aufgestellten SS-Division „Nordland“ gebildet, das unter anderem 1943 bei der Partisanenbekämpfung in Kroatien eingesetzt wurde. Schwedische und schweizerische Freiwillige dienten in den SS-Divisionen „Wiking“, „Nordland“ und „Nederland“, kämpften überwiegend im Osten und waren zuletzt an der Verteidigung Berlins 1945 beteiligt. Die Division „Wiking“ wurde zudem bei der Schlacht um Budapest und der Plattenseeoffensive eingesetzt.

Es sei daran erinnert, dass es noch mehrere Tausende Menschen gab, die zwar nicht bei der Waffen-SS dienten, aber anderen militärischen Verbänden beigetreten waren – etwa dem Schalburgkorps in Dänemark. Diese Tatsache war für den geborenen Schweden Martin Gutmann einer der Beweggründe, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen.

Es geht um das Phänomen, das Geschichtswissenschaftler als „Widerstands-Mythos“ in Westeuropa bezeichnet haben. Demnach wird häufig die Rolle kleiner und wenig bedeutender Widerstandsbewegungen übertrieben. In seiner Studie schreibt Martin Gutmann, dass man, wenn man schon den Widerstandsbewegungen, unter anderem auch dem so genannten „passiven Widerstand“, eine derart große Bedeutung beimisst, seine Augen auch nicht vor dem Problem der Kollaboration verschließen sollte.

Es gibt demnach einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem erwähnten „Widerstands-Mythos“ und dem, was Martin Gutmann als „Freiwilligen-Mythos“ bezeichnet. Heutzutage ist in der breiten Öffentlichkeit und teilweise auch in der Wissenschaft ziemlich die Meinung verbreitet, dass ausländische Freiwillige der Waffen-SS überwiegend zur Unterschicht gehörten, kriminell veranlagt und psychisch instabil gewesen seien. Mit solchen Vorstellungen ist Dr. Gutmann selbst nicht selten konfrontiert gewesen.

„Ich bin in Schweden aufgewachsen und hatte damals auch von meinem Großvater gehört, dass die Schweden, die nach Deutschland gingen, ausschließlich Verrückte oder Verbrecher waren. Und da ist es natürlich nicht sehr überraschend, dass die Wahrheit viel komplexer war und dass es unter den Freiwilligen auch eine Gruppe von sehr sprachlich und akademisch begabten, in der Gesellschaft gut integrierten Freiwilligen gab.“

Genau das ist die Hauptthese der 23-seitigen Studie von Dr. Gutmann, die im November in der Zeitschrift „Contemporary European History“ (Cambridge University Press) erschienen ist. Demnach verfügte ein Großteil der Freiwilligen aus neutralen Staaten über eine gute Ausbildung, einen starken Charakter, war überdurchschnittlich intellektuell und weltoffen. Der Historiker hat sich auf drei Länder konzentriert – Schweden, Dänemark und die Schweiz. Der Grund dafür war, dass in diesen Ländern Freiwillige nicht zwangsrekrutiert worden waren, sondern sich im direkten Sinne des Wortes freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatten.

„In diesen Ländern war das gar nicht möglich, weil Schweden und die Schweiz gar nicht von Deutschland besetzt wurden und Dänemark bis 1943 eigentlich eine sehr freie Hand in den politischen Sachen hatte. D.h. die Freiwilligen, die aus diesen Ländern kamen, hatten persönliche Gründe gehabt, oder sonstige, die nichts mit Zwang zu tun hatten.“

Im Laufe seiner Recherchen ist Gutmann zu dem Schluss gekommen, dass Waffen-SS-Freiwillige aus diesen Ländern weitgehend ähnliche Lebenserfahrungen in der Vorkriegszeit hatten, aus ähnlichen – ausgeprägt guten – Verhältnissen kamen und durch eine ähnliche Denkweise geprägt waren. Diese Denkweise fällt nicht unter eine einheitliche Definition und stellt eher eine Mischung verschiedener Ideologien und der damals in Europa verbreiteten Ansichten dar. Die Männer aus den neutralen Staaten, die sich freiwillig zum Dienst in der Waffen-SS gemeldet haben, betrachteten das demokratisch-kapitalistische System in Europa, das sie für einen Irrweg hielten, sehr kritisch. Wobei sie beide Seiten, die anglo-amerikanische liberale Welt und den Bolschewismus, als eine Gefahr für ihre Länder wahrgenommen hatten.

Insofern ist bei dieser Gruppe ein Verlangen nach einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung Europas deutlich erkennbar gewesen. Die meisten besaßen ausgeprägt pan-europäische Ansichten und wiesen eine starke Neigung zum Faschismus auf, obwohl die Mehrheit nicht offiziell zu einer faschistischen oder nationalsozialistischen Organisation gehörte. Zur Herausbildung dieser Denkweise hat unter anderem die Tatsache geführt, dass die drei genannten Länder in vielen europäischen Kriegen neutral gewesen sind. Dies hielten viele der zukünftigen Freiwilligen noch in der Vorkriegszeit für grundsätzlich falsch und sogar schädlich. Dazu behauptet Martin Gutmann, der Biografien von mehreren Freiwilligen analysiert hat, dass die Ansichten dieser Menschen durch eine große Weltoffenheit gekennzeichnet waren, wenn nicht gar durch einen gewissen Internationalismus. D.h. diese Denkweise hatte zugleich nationalistische und internationalistische Züge, es war eine Mischung von Internationalismus und Nationalsozialismus.

Andererseits darf man auch nicht versuchen, die damalige Situation zu vereinfachen und eine zu breite These aus dieser relativ kleinen Studie zu ziehen, etwa darüber, inwieweit faschistische und nationalsozialistische Ideen generell in Europa verbreitet waren. Wenn man jedoch versucht, die Erkenntnisse der Studie zumindest ein wenig zu generalisieren, können laut Martin Gutmann folgende Schlussfolgerungen gezogen werden.

„Sicherlich heißt es, dass nicht alle Westeuropäer nur demokratisch oder sozialdemokratisch geprägt waren. Das ist natürlich an und für sich selbst nicht überraschend, aber ich denke, diese Studie zeigt wohl, dass der Faschismus doch eine gewisse Resonanz in Europa ausgelöst hat. Aber gleichzeitig fand der Kommunismus natürlich auch sehr viel Unterstützung. Das unterstützt die These, dass die Zwischenkriegszeit in Westeuropa politisch oder ideologisch gesehen sehr komplex war.“

Im Laufe seiner Arbeit hat sich Dr. Gutmann vor allem der Dokumente der staatlichen Archive bedient. Insgesamt wurden 19 Archive von sieben Ländern benutzt. Ein Großteil der Quellen waren Dokumente aus polizeilichen Archiven, in denen unter anderem umfangreiches Material über die Freiwilligen der Waffen-SS gesammelt wurde. Von Interesse waren auch einige private Sammlungen, in denen man praktisch alle Informationen über einzelne Menschen aus dieser Zielgruppe finden konnte – von ihren studentischen Aufsätzen bis zu Proklamationen, die sie in der Kriegszeit geschrieben haben.

Unter Historikern ist die Studie von Gutmann ziemlich gut angekommen und hat keine bemerkenswerte Resonanz ausgelöst. Wegen seiner Komplexität bedarf das Thema zweifelsohne weiterer grundlegender Forschungen, die eigentlich bereits in einem relativ großen Ausmaß betrieben werden. Bisher wurden allerdings nur zwei große und umfangreiche Studien zur Geschichte der Waffen-SS durchgeführt. Eine Studie kommt aus Deutschland (Bernd Wegner, „Hitlers Politische Soldaten“), und die andere wurde von einem amerikanischen Historiker verfasst (George Stein, „The Waffen-SS: Hitler's Elite Guard at War“). Martin Gutmann hat vor, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen und möglicherweise bereits im Frühling eine neue wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen."

Die Meinung des Autors stimmt nicht unbedingt mit der Haltung der Redaktion überein.

Quelle: Text: Irina Popowa - „Stimme Russlands"

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