Kasachstan: Der andere Holodomor
Archivmeldung vom 04.12.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 04.12.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch André OttDie Ukraine feiert den Holodomor-Gedenktag am vierten Samstag im November. Ein von Stalin provozierter Völkermord durch Hunger an mehr als vier Millionen Menschen, der jahrzehntelang zum Schweigen gebracht wurde und für den es auch heute noch viele Gegner gibt, die ihn leugnen, als Propaganda abstempeln oder die Hungersnot mit schlechten Witterungseinflüsseb begründen. Dies berichtet Alvaro Peñas in der Zeitung "El Correo de España". Der Bericht wurde vom Magazin "Unser Mitteleuropa" ins deutsche Übersetzt.
Peñas weiter: "Es war indes nicht nur die Ukraine, wo 1932–1933 der Bevölkerung eine Hungersnot auflegt wurde; Hungersnöte ereigneten sich auch an anderen Orten in der ehemaligen Sowjetunion, jedoch in der Ukraine verschlimmerte die kriminelle Politik der Kommunisten die Hungersnot noch und führte zu einem regelrechten Völkermord.
Ein anderer, viel weniger bekannter Ort, an dem die Hungersnot ebenfalls zu einem Instrument des stalinistischen Terrors wurde, ist Kasachstan. In diesem zentralasiatischen Land wurden, ebenso wie in der Ukraine, Maßnahmen wie Lebensmittelbeschlagnahmungen und verschärfte Repressionen zur Auslösung einer Hungersnot genutzt, um Kasachstan zu sowjetisieren. In ihrem Verlauf wurde die kasachische Elite verfolgt und regelrecht ausgerottet. Dieses Verbrechen ist unter dem Namen Goloschtschokin-Völkermord bekannt.
Die von Stalin auferlegte Kollektivierung traf Ende 1929 in Kasachstan ein, doch ihre Umsetzung bereitete mehr Probleme als in anderen Gebieten der UdSSR. Aufgrund seiner Lage in Zentralasien und seines extremeren Klimas waren die kasachischen Nomadenstämme gezwungen, mit ihrem Vieh je nach Jahreszeit herumzuziehen. Der nördliche Teil des Landes war fruchtbarer, während der südliche Teil Wüste war. Es gab nur sehr wenige größere Siedlungen wie Almaty (Hauptstadt zu Sowjetzeiten) am Balkasch-See oder Akmola (später Astana und jetzt Nursultan, die heutige Hauptstadt), die aus russischen Außenposten in der Zarenzeit hervorgegangen waren. Stalins Mann in Kasachstan war der Sekretär des kasachischen Regionalkomitees, Filipp Ischavitsch Goloschtschokin. Als Bolschewik der alten Garde war er zwischen 1917 und 1925 Kommissar des Ural- und Tscheka-Sowjets und einer der Organisatoren des Attentats auf Zar Nikolaus II. und seine Familie im Juli 1918 in Jekaterinburg. Wie viele andere Tschetschenen fiel Goloschtschokin den stalinistischen Säuberungen zum Opfer und wurde im Oktober 1939 verhaftet. Er wurde am 28. Oktober 1941 erschossen und 1961 rehabilitiert.
Von Anfang an war es unmöglich, die Forderungen nach Getreideabgaben zu erfüllen. Die Beschlagnahmungen von Getreide (über eine Million Tonnen im Jahr 1930) und Vieh provozierten alle Arten von Protesten, von Ausschreitungen bis hin zu Guerilla-Aktionen in der Region Mangyschlak, minderten jedoch nicht die Forderungen der Kommunisten. In einem Brief vom 31. Januar 1931 besteht Stalin darauf, dass Goloschtschokin „die verordnete Quote von 8 Millionen Tonnen bedingungslos einhält“ und verlangt, dass er „alle notwendigen Maßnahmen ergreift“.
Die „notwendigen Maßnahmen“ unterwarfen jedoch nicht den Widerstand der Kasachen gegenüber den Beschlagnahmungen, und Stalins Reaktion war gnadenlos. Wie im Falle der Ukraine machte Stalin nicht nur die Kasachen für das Scheitern der Quoten verantwortlich, sondern auch die lokalen Kommunisten für die Sabotage der Kollektivierung und für die Kollaboration mit den Kulaken (die Kulaken waren die Landbauern, die die Kollektivierung verweigerten und vom Staat zum Klassenfeind gemacht wurden). In einem verschlüsselten Telegramm vom 21. November 1932 weist Stalin darauf hin, dass „man sich darüber im Klaren sein muss, dass der Dienst des Volkskommissariats und die Regionalpartei unter solchen Bedingungen keinen anderen Weg als den der Repression einschlagen kann, obwohl natürlich Repression allein nicht ausreichen und wir parallel dazu eine breite und systematische Propagandakampagne brauchen.
Goloschtschokins Kampagne begann, wie die in der Ukraine, mit der Verfolgung der Kulaken und der gewaltsamen Beschlagnahmung aller Lebensmittel. Das Ergebnis war, wie zu erwarten war, eine weit verbreitete Hungersnot. In ähnlicher Weise wurde der 1928 eingeleitete Prozess der Sowjetisierung, der zur Verfolgung der kasachischen Elite führte, fortgesetzt. Zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Politiker, Ingenieure, Historiker und Wissenschaftler wurden hingerichtet oder in Lagern interniert. Auch ihre Familien erlitten das gleiche Schicksal. Viele derer, die diese erste Säuberung überlebten, sollten 1937 erneut vor Gericht gestellt und hingerichtet oder in andere Sowjetrepubliken verbannt werden.
In Kasachstan gab es – anders als im Falle der Ukraine – keinen Journalisten wie Gareth Jones, der der Welt enthüllte, was vor sich ging. Es war hingegen eine 19-jährige Russin, Tatiana Nevadowskaja, die Tochter eines Exillehrers im kasachischen Dorf Schymdaulet, die Zeugin der Hungersnot wurde undihr Zeugnis in ihrem Tagebuch „Die schrecklichen Hungerjahre 1932–1933“ hinterließ. Fünfzig Jahre später übergab Tatiana ihr Tagebuch dem kasachischen Zentralarchiv. In anderen Dokumenten ist die Rede davon, dass Bauern geschlagen wurden, weil sie Lebensmittel aus Kolchosen gestohlen hatten, was oft zum Tod führte, und dass sogar eine Familie um ihre Rationen gebracht und zum Hungertod verurteilt wurde. Es gab auch Fälle von Kannibalismus. Ein geheimer Bericht der OGPU (Abkürzung für „Vereinigte staatliche politische Verwaltung“) vom 31. März 1933 erwähnte die Verhaftung einer Frau im Februar, weil sie die Leiche eines 6- oder 7‑jährigen Jungen gekocht und gegessen hatte.
Die Sowjets eröffneten 11 Sonderlager (GULAG) in Kasachstan. Eines von ihnen, heute ein Museum, ist das „Akmolinsker Lager für Ehefrauen von Heimatverrätern“, abgekürzt Alzhir. Mehr als 10.000 dieser Ehefrauen starben in dem Lager. Der südliche Wüstenteil des Landes wurde genutzt, um kasachische Kulaken und Deportierte aus anderen Regionen der UdSSR umzusiedeln. In den 1930er Jahren wurden 64.000 ukrainische Kulakenfamilien nach Kasachstan umgesiedelt, gefolgt von Tschetschenen, Inguschen, Deutschen, Koreanern, Türken, Iranern, Krimtataren und Polen. Nach Angaben des Demographen Sergej Maksudow betrug die Zahl der Toten 1.450.000 Kasachen oder 34% der damaligen Kasachen, zu denen noch weitere 100.000 Opfer anderer Nationalitäten hinzukamen. Darüber hinaus flohen weitere 700.000 Kasachen aus Kasachstan, hauptsächlich nach China. Infolgedessen wurden die Kasachen bis in die 1980er Jahre zu einer ethnischen Minderheit im eigenen Land.
Kasachstan begeht jeden 31. Mai den Gedenktag für die Opfer der politischen Unterdrückung und des Hungers. An diesem Tag werden die Toten mit verschiedenen Veranstaltungen und Blumengaben geehrt. Doch ähnlich wie bei der Gewaltherrschaft Janukowitschs in der Ukraine ist von Völkermord keine Rede. Nach dem Fall der UdSSR übernahm Nursultan Nasarbajew die Präsidentschaft des Landes. Nasarbajew blieb 29 Jahre lang an der Macht und gewann alle Präsidentschaftswahlen mit eindeutigen Siegen, bis er 2019 freiwillig zurücktrat und durch Kassym-Jomar Tokajew ersetzt wurde. Die Hauptstadt des Landes, Astana, änderte zu seinen Ehren ihren Namen in Nursultan. Kasachstan ist in seiner Politik eng mit Russland verbunden, von dem es wirtschaftlich abhängig ist und mit dem es am 29. Mai 2014 eine Zollunion gemeinsam mit Belarus unterzeichnet hat. Die russische Regierung will nichts von Völkermorden hören, die von Stalin, einer in Russland zunehmend populären Figur, begangen wurden, und verteidigt die Position, dass es für die Hungersnot keine politische Absicht gab.
Am 30. Januar 2019 wurde der Dokumentarfilm „Zulmat: Genozid in Kasachstan“ des Journalisten Zhambolat Mamai veröffentlicht. Dieser Dokumentarfilm, der sehr gut aufgenommen wurde, prangerte den Völkermord durch Hunger am kasachischen Volk, dessen Exil und die Bombardierung der Bevölkerung an, weil sie sich den Beschlagnahmungen widersetzt hatte (die verantwortlichen Piloten wurden als „Helden der Sowjetunion“ ausgezeichnet). Mamai prangerte auch die Existenz von Geheimdokumenten in den Händen des Kremls an, die die Ausführung dieses Verbrechens bestätigten. Die Antwort des russischen Außenministeriums vom 22. Februar war eine offizielle Erklärung „zu den Unterstellungen bezüglich der Tragödie, die durch die Hungersnot in der Sowjetunion 1932–1933 verursacht wurde“. In der Erklärung hieß es, dass die Tragödie auf natürliche Ursachen zurückzuführen sei und dass die ergriffenen Sofortmaßnahmen die Situation verschlimmerten. „Wir sind davon überzeugt, dass die Manipulation historischer Fakten mit der nationalistischen Karte die Völker Zentralasiens, die mit den Russen brüderlich verbunden sind, nicht täuschen kann. Wie in der Ukraine werden also diejenigen, die die Anerkennung der verbrecherischen Politik Stalins fordern, als „Nationalisten“ gebrandmarkt.
Im Juni dieses Jahres forderten mehrere kasachische Abgeordnete die Anerkennung der Hungersnot als „von der totalitären Macht der Bolschewiki organisierten Völkermord“. Mit den Worten des Abgeordneten Berik Djusembinow: „Solange wir ihren Tod nicht als das anerkennen, was er wirklich war, werden wir unsere Schuld an diesen gequälten Seelen nicht bezahlt haben“. Die Schulden bei den Opfern des Völkermords von Goloschtschokin sind noch lange nicht beglichen, aber wir müssen, wie im Fall der Ukraine, ihre Geschichte bekannt machen.
Datenbasis: El Correo de España
Quelle: Unser Mitteleuropa