HIStory: Willy Brandt und der German Marshall Fund
Archivmeldung vom 23.01.2024
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićHerzlich willkommen zu einer neuen Folge von HiStory! Heute: Wie Willy Brandt von den Amerikanern trotz großzügiger Gastgeschenke unsanft abserviert wurde. Mein Name ist Hermann Ploppa und ich erkläre ihnen heute die wirklichen Hintergründe des Rücktritts des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt im Jahre 1974. Wenn Sie bislang geglaubt haben, Brandt sei über die Spionage-Affäre Guillaume oder seine Frauengeschichten gestolpert, dann habe ich heute eine Überraschung für Sie in der Tasche.
Eine hochkarätige Gesellschaft lauscht am 5. Juni 1972 im Sanders Theatre ergriffen und befriedigt den Worten des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt. Der ehrwürdige Saal inmitten der Eliteuniversität Harvard diente schon Winston Churchill und Martin Luther King als Bühne. Der Bundeskanzler Brandt hat gerade ein von der CDU-Opposition eingefädeltes Misstrauensvotum im Bonner Bundestag überstanden. Der unfaire Umsturzversuch seiner politischen Gegner beschert Brandt eine bislang ungeahnte Beliebtheit.
Und auch hier im Zentrum US-amerikanischer Gelehrsamkeit wird Brandt seine Beliebtheit gleich zu erhöhen wissen – er hat ein großes Geschenk mitgebracht: nämlich 150 Millionen Deutsche Mark. Aus deutschen Steuergeldern finanziert. Es ist nun 25 Jahre her, dass über Deutschland und etliche andere Länder Westeuropas das Füllhorn von Geldmitteln aus dem berühmten Marshall-Plan ausgeschüttet wurde. Großzügig hatten die Amerikaner den Deutschen nach dem entscheidenden Kinnhaken wieder auf die Beine geholfen mit Investitionsgeldern, aber im Zusammenhang mit dem Marshall-Plan auch mit Lebensmittelpaketen. Es ist tatsächlich eher selten, dass die Kriegsverlierer vom Sieger nicht restlos geplündert, gedemütigt und gebrandschatzt wurden, sondern Hilfe bekamen.
Und 1972 ist der Westteil Deutschlands zu einer mächtigen Wirtschaftsnation aufgestiegen, und so mancher Bundesbürger stellt die Frage, ob die Amerikaner denn immer noch mit gigantischen Besatzungstruppen in der Bundesrepublik bleiben müssen? Doch Transatlantiker Brandt beschwört die Amerikaner in Harvard:
„In dieser Phase des Wandels ist Amerikas Gegenwart in Europa nötiger denn je … Die Formen des amerikanischen Engagements können sich ändern, aber ein Rückzug würde ein Grundgesetz unseres Friedens abrupt beenden. Das wäre gleichbedeutend mit Abdankung.“ <1>
Und damit unsere amerikanischen Freunde gerne in Deutschland bleiben, verkündet Brandt, was mit den 150 Millionen DM aus dem deutschen Volksvermögen geschehen wird. Die Amerikaner sollen mit dem Geld eine Stiftung gründen, die politische Analysen erstellen und die Studenten unterstützt <2>. Das alles im Geiste der transatlantischen Freundschaft. Der Name der in Washington angemeldeten Stiftung soll die Beziehung zwischen Deutschland und dem Marshall-Plan in sich bergen: German Marshall Fund of the United States. Die Deutschen wollen keine Mitsprache bei der inhaltlichen Gestaltung der Stiftungsarbeit. Es ist eben ein Geschenk, ein kleines Dankeschön für die Starthilfe von 1947.
Tatsächlich haben die Amerikaner die Deutschen nicht zu dieser Gabe drängen müssen. Der Harvard-Hochschullehrer Guido Goldmann bittet den deutschen Finanzminister Alex Möller um eine kleine Spende für sein Forschungsprojekt. Möller erklärt nach Rücksprache mit Brandt dem verdutzten Goldman, man wolle nicht kleckern, sondern gleich klotzen; es gibt einige Millionen. Und der Deutsche Bundestag stimmt dieser Gabe von 150 Millionen DM trotz der mit harten Bandagen geführten Grabenkämpfe rund um das Misstrauensvotum gegen Brandt einstimmig zu. Die USA-Lobby hat den Bonner Apparat mittlerweile perfekt im Griff.
Der German Marshall Fund of the US soll mit den Jahren zu einer wichtigen Säule der weichen Macht in Deutschland werden. Auch hier sind die Anfänge bescheiden, mit vier hauptamtlichen Mitarbeitern und deutsch-amerikanischen Studienreisen, die in Washington als „Kaffeefahrten“ bespöttelt werden. Doch im Jahre 2001 verfügt der Fund über ein Stiftungskapital in Höhe von 215 Millionen Dollar, und kann im selben Jahr 12,7 Millionen Dollar ausgeben. Der German Marshall Fund of the US gründet 1981 die marktradikale Kaderschmiede mit dem Namen Institute for International Economics. Das Marshall Memorial Fellowship sponsert achtwöchige Bildungsreisen für Nachwuchsführer im Alter zwischen 25 und 35 Jahren. Dazu gibt es Zuschüsse für Studierende, die wissenschaftliche Abhandlungen über transatlantische Beziehungen schreiben.
Der Geldsegen aus Germany reißt nicht mehr ab: Helmut Kohl und alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages, also auch die frisch gewählten Parlamentarier der Grünen-Fraktion, stimmen im Dezember 1985 einer Gabe von 40 Millionen Dollar an den German Marshall Fund zu. Und im November 2000 stimmen alle Abgeordneten einer weiteren Schenkung in Höhe von 15 Millionen DM an die Washingtoner Stiftung zu. Also müssen neben den Grünen auch alle Abgeordneten der PDS diesem Transfer zugestimmt haben.
Der Mauerfall und der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks weisen dem German Marshall Fund of the US ganz neue Tätigkeitsfelder zu. Bereits vor dem Mauerfall unterhielten die GMF-Leute Kontakte in die DDR und zur polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Der damalige GMF-Präsident Frank Loy: „Nur zwei Organisationen engagierten sich in Osteuropa, um die Demokratie voranzubringen – das George Soros Open Society Institute und der German Marshall Fund.“ Das kann der German Marshall Fund auf Dauer nicht alleine schultern.
Also fungiert der GMF vornehmlich als Ideengeber. Die Stiftung bestimmt, in welchem Land die amerikanische Vorherrschaft mit welchen Mitteln durchgesetzt werden kann. In Ungarn entsteht auf diese Weise die Democracy After Communism Foundation, in Serbien ein Balkan Trust for Democracy, in Rumänien der Black Sea Trust. Es ist immer das gleiche Muster: der Marshall Fund bringt das Know how und ein bisschen Geld sowie Kontakte mit. Die Leute vor Ort eröffnen ein Büro, engagieren Mitarbeiter aus der Region, und die Regierung des Gastgeberlandes sorgt für eine langfristige Finanzierung der neuen Stiftungen durch Steuergelder. Mit einem Minimum an Startgeldern geht eine Lawine von Gründungen in der Region los. Die Software amerikanischer Governance verkörpert sich durch die Geld- und Machtmittel aus der Region.
Heute ist aus Willy Brandts Jubiläumsgeschenk eine mächtige Institution geworden. Die Fangarme des Marshall Fund reichen weit nach Osten – in die Türkei, in den Kaukasus, ja sogar nach Indien und China. Die Vermittlung der neuen Kader im Osten läuft über dieses Netzwerk.
Ein Büro in Brüssel steht dagegen für den Anspruch des German Marshall Fund, auch bei der Europäischen Union ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. EU-Bürokraten wie Javier Solana und Manuel Barroso gingen dort ein und aus wie auch US-Präsident George Bush II. Der German Marshall Fund betrachtet sein Brüssel Forum als entscheidende dritte Säule der transatlantischen Absprachen neben der Münchner Sicherheitskonferenz und dem Weltwirtschaftsforum in Davos:
„Das innovative Gesprächsformat in lockerer Runde, die nicht-öffentlichen Nachtsitzungen bis über das Frühstück hinaus, und die hochrangigen Nachrichtenmacher führten zu einer internationalen Medienbeachtung und einem höheren Ansehen für den German Marshall Fund als irgendetwas, was die Organisation jemals zuvor unternommen hatte. Die Themen reichten über die gesamte Bandbreite der transatlantischen Agenda, einschließlich Energiesicherheit, Mittlerer Osten, Wirtschaft und Handel, Terrorismus und kulturelle Identität.“ <3>
Willy Brandt indes wird sein kleines „Dankeschön“ von 150 Millionen Mark auf Dauer nicht vergolten. Es ergeht ihm wie deutschen Regierungschefs vor ihm: der Weg zur Macht wird ihnen erleichtert durch exzellente Beziehungen zur amerikanischen Machtzentrale. Doch im Kanzleramt wird ihnen dann plötzlich und unerwartet klar, dass sie ja vielleicht auch Deutschland ein Stück weit verpflichtet sind.
Adenauer war entfernt verschwägert mit John McCloy, und Adenauer pries seine Freundschaft mit dem US-Außenminister John Foster Dulles, dem Mann mit der massiven Vergeltung. Das hielt den Bundeskanzler jedoch nicht davon ab, sich de Gaulle stark anzunähern, und die transatlantische Bande zu lockern. Erhard will von de Gaulle wiederum nichts wissen, ist aber irgendwann auch nicht mehr bereit, die ständig erhöhten Schutzgeldforderungen der Amerikaner noch weiter zu bedienen. Also muss auch er gehen.
Die Umstände des Machtverlustes von Willy Brandt wiederum verdienen, mysteriös genannt zu werden. Brandt erklärte am 5. Mai 1974 seinen Rücktritt als Bundeskanzler. Angeblich war der Sozialdemokrat zurückgetreten, weil der DDR-Spion Günter Guillaume einer seiner wichtigsten Berater gewesen war. Dass Guillaume nicht rechtzeitig enttarnt wurde, dafür sind nach menschlichem Ermessen doch wohl eher die westlichen Geheimdienste verantwortlich zu machen. Und deren oberster Dienstherr war der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher, im Insiderjargon auch „Tricky Dicky“ genannt. Doch Tricky Dicky Genscher trat nicht zurück. Vielmehr stieg er nach Brandts Sturz sogar zum neuen Bundesaußenminister auf. Zufälle gibt das, die gibt das gar nicht …
Brandts Sturz hat einen tieferen Hintergrund, der natürlich nicht so gut in die Klatsch- und Tratschspalten deutscher Qualitätsmedien passte. Gucken wir uns also die weltpolitische Situation des frühen 1970er Jahre etwas genauer an:
Man kann an dieser Stelle an die Überlegungen Brzezinskis erinnern. Demzufolge knüpfen die USA viele Netzwerke weltweit, um sich ein Vasallensystem zu schaffen, das im Fall einer Schwächung der amerikanischen Macht die Pax Americana am Leben erhält. Seit dem Zweiten Weltkrieg war der amerikanische Anteil an der Weltwirtschaft von 50% auf 20% abgesunken. Und wie ein störrisches Kind, das, wenn es ein Spiel verliert, wütend mit den Füßen aufstampft und schreit: „Das gildet nicht!“, so wollten auch die Amerikaner nichts mehr von ihrem geliebten Freihandel wissen, sobald die Attraktivität ihrer eigenen Waren auf dem Weltmarkt dahinschwand. Weil Deutschland den amerikanischen Markt mit Waren Made in Germany überrannte, erzwangen die Amerikaner eine künstliche Aufwertung der D-Mark um 16%, damit deutsche Waren auf dem US-Markt um 16% teurer werden.
Und weil die USA im Vietnamkrieg Geld ohne Ende versenkt haben, sollten die Deutschen für die Kosten der US-Besatzungstruppen in Deutschland aufkommen, und dann auch noch den Fuhrpark der Army in Deutschland auf eigene Kosten reparieren lassen. Und um den Großen Bruder aus Übersee friedlich zu stimmen, kauft die Bundesregierung noch für 1.2 Milliarden Dollar Rüstungsgüter aus den USA, die sie gar nicht so dringend benötigt.
Als im Oktober 1973 in Palästina der Yom-Kippur-Krieg ausbricht, stellt sich die US-Regierung bedingungslos hinter Israel. Die westeuropäischen Regierungen bewahren dagegen Neutralität. Das finden US-Präsident Nixon und sein Außenminister, der CFR-Chefideologe Henry Kissinger gar nicht gut. Letzterer droht den Europäern mit dem Abzug der Besatzungstruppen. Kanzler Brandt wird im April und erneut im September 1973 zum Rapport bei Nixon einbestellt, und Brandt ist nicht mehr länger brav. Ein wackerer Hofchronist der Pax Americana weiß es in folgende kluge Worte zu fassen: „Das selbstbewusste Auftreten des Friedensnobelpreisträgers Brandt, der Begriffe wie ,emanzipierte Partnerschaft’ und ,regionale Eigenverantwortung’ verwendete, förderte nicht das Verständnis zwischen den beiden Staatsmännern.“ <4>
Der Konflikt zwischen der US-Administration und einigen europäischen Regierungen, insbesondere Frankreichs, eskaliert im Jahre 1974 weiter. US-Außenminister Kissinger ist wütend, weil die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft sich am 7. März 1974 mit ihren arabischen Kollegen treffen wollen, ohne ihn gefragt zu haben: ein „feindseliger Akt“ sei das, schäumt Kissinger. Er eilt zu Brandt und dem damaligen Außenminister Scheel am 3. und 4. März. Die Araber wollen mit den Europäern gute Geschäfte machen, aber nicht mit den USA. Das gildet nicht! Die Europäer treffen sich also nicht mit den Arabern.
Und die europäischen Außenminister müssen in einer außerordentlichen Versammlung in Schloss Gymnich im Rheinland am 20. und 21. April 1974 ihre Extra-Hausaufgaben erledigen. Als Ergebnis kommt die so genannte „Gymnicher Formel“ heraus. Die EG-Außenminister: „… einigten sich … darauf, dass künftig bei Themen, die von den USA als wichtig angesehen wurden, Konsultationen mit den USA unabwendbar sein würden.“ <5> „Unabwendbar“ klingt nicht gerade nach Partnerschaft. Und der Hofchronist der Atlantik-Brücke Ludger Kühnhardt sieht in der Gymnicher Formel „… faktisch eine Anerkennung der amerikanischen Führungsrolle in der westlichen Bündnisstruktur.“ <6>
Die Gymnicher Formel beinhaltet zwar keine festgeschriebene Pflicht, die USA zu konsultieren. Mittlerweile zahlt sich aber die transatlantische Netzwerkarbeit aus. Frankreich lehnt nun ab, die USA wegen der arabisch-europäischen Gespräche um Erlaubnis zu fragen. Woraufhin Deutschland und Großbritannien diese Gespräche gar nicht mehr durchführen wollen. Frankreich als europäischer Rivale der USA ist geschwächt, denn Staatspräsident Pompidou ist am 2. April gestorben. Und so wird dann die Atlantische Deklaration, eine endgültige Festschreibung der Gymnicher Formel, am 26. Juni 1974 im Beisein von Präsident Nixon in Brüssel von allen EG-Staaten und den USA unterschrieben.
Nixon kann im Juni 1974 also doppelt zufrieden sein. Denn der selbstbewusste Willy Brandt ist als Kanzler zurückgetreten. An seiner Stelle unterschreibt der kantige Helmut Schmidt die Atlantische Deklaration. Denn Schmidt „wurde in Washington als ,Atlantiker’ geschätzt.“ <7> Als Nachfolger Pompidous wählen die Franzosen Valerie Giscard d’Estaing ins Präsidentenamt. Schmidt und d’Estaing verstehen sich außerordentlich gut, und beide sind der Regierung in Washington außerordentlich zugetan. Walter Scheel wechselt ins Amt des Bundespräsidenten. Neuer Außenminister wird, wie gesagt, Hans Dietrich Genscher, der mit Schmidt zusammen einen raueren Ton gegenüber Moskau anschlägt.
Neue Gesichter für eine neue Politik: nämlich die Politik des Verzichts auf eine eigenständige europäische Außenpolitik. Entscheidend dafür ist die Beeinflussung der deutschen Politik durch unzählige USA-orientierte Lobbyorganisationen in Deutschland. Die deutsche Regierung hat dafür gesorgt, dass ab 1973 Großbritannien in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen wird. Großbritanniens Außenpolitik ist traditionell deckungsgleich mit der Außenpolitik der USA. Nun können Großbritannien und Deutschland das immer wieder eigenwillige Frankreich endlich in die Zange nehmen.
Wir lernen auch der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen
<1> Willy Brandt, Rede am 5.6.1972 in Harvard: http://www.gmfus.org/thanking-america-willy-brandts-marshall-memorial-convocation-speech/
<2> die folgenden Angaben nach Nicholas Siegel: The German Marshall Fund of the United States: A Brief History. http://www.gmfus.org/archives/the-german-marshall-fund-of-the-united-states-a-brief-history/
<3> ebd., S.29
<4> Ludger Kühnhardt: Atlantik-Brücke – Fünfzig Jahre deutsch-amerikanische Partnerschaft 1952-2002. München 2002. S.135
<5> Kühnhardt, S.140
<6> ebd.
<7> ebd., S.141
Quelle: apolut