42 Tage Niemandsland
Archivmeldung vom 20.06.2005
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Freigeschaltet durch Michael DahlkeNach Kapitulation blieb Schwarzenberg unbesetzt - Stefan Heym schuf Utopie einer freien Republik
Berlin (ddp-lsc). «Die Republik Schwarzenberg ist nicht mehr auffindbar. Fast scheint es, als hätten gewisse Personen ein Interesse daran gehabt, alles Gedenken an sie auszulöschen, so, als wäre diese Republik etwas Schlimmes gewesen, eine Art Krankheit, eine Pestbeule, die man ausbrennt.» Diese Sätze haben die Transformation der Pestbeule in einen Mythos eingeleitet. Sie stehen am Anfang von Stefan Heyms Buch «Schwarzenberg» von 1984.
Das Werk machte die dramatischen Vorgänge im sächsischen Erzgebirge nach Kriegsende einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Auch dort warteten nach der Kapitulation des Deutschen Reichs die Menschen auf die Besatzer. Aber niemand kam. Wahrscheinlich aufgrund eines geografischen Missverständnisses blieben die Amerikaner in Zwickau stehen, die Russen in Annaberg. Dazwischen lag ein Niemandsland mit 80 Städten und Gemeinden und fast 300 000 Einwohnern, Flüchtlingen, Zwangsarbeitern und versprengten Wehrmachtsverbänden.
In das Machtvakuum stießen Aktionsausschüsse aus Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie übernahmen die Verwaltung, versuchten, die Versorgung aufrecht zu erhalten und überdruckten die Hitlerbriefmarken mit der Ansicht des Schwarzenberger Schlosses. 42 Tage dauerte diese Selbstverwaltung. Sie endete mit dem Einzug russischer Truppen in die örtliche Kommandantur. Was bleibt, ist der faszinierende Mythos einer ersten deutschen Nachkriegsdemokratie.
Es gibt jedoch nicht nur eine Version dieser Geschichtssekunde. Heyms Buch «Schwarzenberg», das auf Gesprächen mit Zeitgenossen aufbaute, träumte von einem menschlichen Sozialismus. Seine Protagonisten etablieren eine Arbeiterdemokratie, lassen die Produktion von Industriegütern wieder anlaufen und entwerfen erste Verfassungsentwürfe für die Republik Schwarzenberg. Heym plädierte mit seinem Denkspiel über eine freiheitlich-sozialistische Republik für einen deutschen Sonderweg zwischen den damaligen Machtblöcken. Das Buch konnte daher zunächst nur in der Bundesrepublik erscheinen.
Heute, 20 Jahre später, nimmt der Autor Volker Braun, ein Freund Stefan Heyms, das Schwarzenberg-Motiv wieder auf. Sein Werk «Das unbesetzte Gebiet» beansprucht Faktentreue. Keine Person oder Begebenheit sei erfunden. Aus dem heroischen Aufbruch von Heym wird bei Braun eine Farce, in der Menschen über die Gelegenheiten eher stolpern, als etwas daraus zu machen. Die Masse übt sich im Warten, der Aktionsausschuss verzweifelt und bittet um Besetzung. «Sie hatten die Freiheit nur geborgt oder gefunden; und besessen, um sie pflichtgemäß abzugeben», schreibt Braun. Zu sonderbar sei dieses Gebilde gewesen, zu vorläufig und utopisch.
Aber nicht zu skurril, um die «Freie Republik» nicht zum Werbeträger für die Stadt Schwarzenberg machen zu können. «Wir waren mal was Besonderes. Da müssen wir diese originellen Ideen doch auch heute geistreich präsentieren», sagt Jörg Beier, Künstler aus Schwarzenberg. Also hat er seine Kneipe mit angeschlossenem Kunstverein kurzerhand zur einer neuen «Republik Schwarzenberg» ausgerufen, Pässe ausgegeben und Geld gedruckt.
Von Rückschlägen - die sächsische Regierung monierte auf seine Anfrage, dass ein Dutzend Künstler nicht ausreiche, um ein Staatsvolk zu konstituieren - lässt er sich nicht entmutigen. Wie seine historischen Vorbilder schwimmt Beier gegen den Strom der Zeit: Zum 60. der Republik organisiert er etwa ein Multi-Kulti-Straßenfest im konservativ geprägten Schwarzenberg, wo die NPD zuletzt große Erfolge feierte.
Vermischung von Wunschtraum und Wahrheit nennt Leonore Lobeck solche Aktivitäten. Für ihr Buch «Die Schwarzenberg-Utopie» hat die im Erzgebirge aufgewachsene 52-jährige das noch vorhandene Aktenmaterial und die Biografien der Beteiligten durchstöbert. Die Republik, die auch erst seit Heyms fiktivem Roman so genannt werde, war nach ihren Recherchen kein demokratisches Gebilde, sondern schlichte Vorwegnahme der SED-Diktatur. Die Mitglieder des Aktionsausschusses übernahmen unter den Sowjets und in der DDR Funktionärsposten und sorgten als solche 1946 für die Auflösung der örtlichen CDU, nachdem diese die Gemeindewahlen gewonnen hatte. Die DDR-Geschichtsschreibung lobte sie dafür als «Kämpfer der ersten Stunden».
«Diese Leute waren in der Weimarer Republik keine Demokraten und in der DDR fest integriert ins System», sagt Lobeck. Einen freiheitlichen Sozialismus à la Heym hätten sie nie im Sinn gehabt. «Eine allein von Deutschen etablierte Demokratie hat es nicht gegeben.»
Quelle: http://www.freiepresse.de/TEXTE/NACHRICHTEN/SACHSEN/TEXTE/218470.html