Es ist ein Mädchen! Das "älteste" Baby stellt sich vor
Archivmeldung vom 22.09.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVor 3,3 Millionen Jahren starb ein 3-jähriges Mädchen in der Region Dikika im heutigen Äthiopien. Sein fast vollständig erhaltenes Skelett gibt den Forschern nun einmalige Einblicke in unsere Vergangenheit. Das historische Alter des Skelettes und das biologische Alter des Kindes zum Todeszeitpunkt machen diesen Fund zu einem in der Geschichte der Paläoanthropologie einmaligen.
Der von einem Forscherteam unter der Leitung von Zeresenay Alemseged vom
Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in der
Fachzeitschrift Nature (September 21, 2006) vorgestellte Fund wird substanziell
dazu beitragen Gestalt, Körperbau, Verhalten, Fortbewegungs- und
Entwicklungsmuster unserer frühen Vorfahren besser zu verstehen und viele neue
Wege zur Erforschung der Kindheit unserer frühmenschlichen Vorfahren eröffnen.
Der neue Skelettfund ist der älteste und vollständigste, der
jemals von einem kindlichen menschlichen Vorfahren gemacht worden ist. Das
Mädchen, das 150.000 Jahre vor Lucy gelebt hat, aber derselben Art
Australopithecus afarensis angehört, war zu seinem Todeszeitpunkt drei Jahre
alt. Das Skelett des Kindes wurde in der Region Dikika in Äthiopien von einem
Team von Paläoanthropologen vom Dikika-Forschungsprojekt (DRP; Dikika Research
Project) unter der Leitung von Zeresenay Alemseged vom Leipziger
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie entdeckt. An dem
internationalen und fachübergreifenden Projekt sind Experten verschiedener
Forschungsbereiche und mehr als 40 Feldforschungsassistenten beteiligt. Der
erste Teil des Kinderskelettes wurde bereits am 10. Dezember 2000 gefunden. Die
Ausgrabung des Gesamtskelettes erforderte weitere vier Jahre, in denen intensiv
nach weiteren Teilen gesucht wurde.
Bisher hatte man gut erhaltene Kinderskelette nur von weniger alten Hominiden gefunden, wie z.B. vom Neandertaler. Ältere Überreste von Kinderskeletten bestanden lediglich aus Schädel, Teilen des Kiefers oder einigen einzelnen Zähnen. Das Skelett des Dikika-Mädchens hingegen ist komplett und in einem sehr guten Zustand. Daher kann man es tatsächlich als einen der größten Funde in der Geschichte der Paläoanthropologie bezeichnen. Der Fund besteht aus einem Schädel, dem Abdruck des natürlichen Gehirns im Sandstein, der den Schädel ausfüllt, und bisher völlig unbekannten oder nur wenig bekannten Skelettteilen, wie z.B. dem Zungenbeinknochen. Vom oberen Skelettteil fanden die Paläoanthropologen den Großteil der Wirbelsäule, beide Schulterblätter, die Rippen und beide Schlüsselbeine.
Schulterblätter sind unter den dokumentierten fossilen Funden der
frühesten Vorfahren des Menschen so gut wie nicht vertreten. Lediglich von Lucy
und einem Australopithecus africanus sind die Schulterblätter unvollständig
erhalten geblieben. Teile der unteren Gliedmaßen, darunter beide Kniescheiben
und substanzielle Teile der Hüfte und des Schienbeins beider Beine, wurden
gefunden, ebenso wie ein fast kompletter Fuß. Hinweise in den
Gesteinsablagerungen am Fundort sowie fehlende Hinweise auf eine Aktivität von
Fleischfressern, Abrieb oder einen Transport der Leiche, verraten den Forschern,
dass das Mädchen vermutlich während einer Flut und kurz nach Eintritt ihres
Todes begraben wurde. Möglichweise hatte diese Flut sogar den Tod des Mädchens
verursacht.
Bei seinem Auffinden waren alle Knochen des oberen
Skelettteils, darunter der Schädel, die Schulterblätter, die Schlüsselbeine, die
Rippen und die Wirbelsäule, in einem sehr kompakten Sandsteinblock
eingeschlossen und klebten aneinander. Meist stehen Paläoanthropologen vor dem
Problem, die sehr bruchstückhaften Teile eines Fundes wieder zusammenfügen zu
müssen. Im Falle des Dikika-Mädchens war die Herausforderung eine umgekehrte:
Sedimente mussten mit Hilfe von zahntechnischen Instrumenten aus den
Rippenzwischenräumen und der gekrümmten Wirbelsäule Korn für Korn entfernt
werden. Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
benötigten dazu bisher fünf Jahre. Der Fund wurde am Diagnostischen Zentrum in
Nairobi, Kenia, mittels Computertomografie gescannt. Diese Technik ermöglichte
es den Forschern, die sich herausbildenden "zweiten" Zähne zu untersuchen und
das Geschlecht sowie Alter des fossilen Fundes zum Todeszeitpunkt festzustellen.
Was macht den Fund wissenschaftlich so bedeutend?
1. Das
Dikika-Mädchen ermöglicht es den Forschern erstmals, die komplette
Schädelmorphologie eines jungen Australopithecus afarensis zu untersuchen.
Basierend auf dem neuen Fund können sie nun feststellen, wie der Schädel des
Australopithecus afarensis sich während des Wachstums, insbesondere beim
Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, veränderte.
2. Das
Gehirnvolumen des Dikika-Mädchens wird auf etwa 330 cm³ geschätzt und
unterscheidet sich damit nicht sehr von dem eines gleichaltrigen Schimpansen.
Wenn man das Gehirnvolumen des 3-jährigen Kindes aber mit dem eines erwachsenen
Vertreters derselben Art vergleicht, stellt man fest, dass die Gehirngröße des
Dikika-Babys nur zwischen 63-88 Prozent der eines erwachsenen Australopithecus
afarensis erreicht. Ein dreijähriger Schimpanse hingegen verfügt bereits über
mehr als 90 Prozent des Gehirnvolumens eines erwachsenen Schimpansen. Das
relativ langsame Gehirnwachstum, das die Forscher beim Australopithecus
afarensis beobachten konnten, kommt dem des modernen Menschen näher als dem des
Schimpansen und weist auf eine Veränderung im Verhalten der Art hin, die vor 3,5
Millionen Jahren lebte.
3. Das Postcranium (Skelettteile unterhalb des
Schädels) besteht aus vielen Knochen, die grundlegende Informationen zur
Fortbewegung und Körpergröße des Australopithecus afarensis enthalten. Der Femur
(Oberschenkelknochen), die Tibia (Schienbein) und der Fuß des Kindes liefern den
Beweis, dass der Australopithecus afarensis bereits im Alter von drei Jahren
aufrecht gegangen ist. Die zwei Schulterblätter aber sind denen von Gorillas
ähnlich. Die Finger sind lang und gekrümmt, wie man es von anderen Vertretern
des Australopithecus afarensis kennt. Damit rücken alte, nach wie vor
unbeantwortete Fragen wieder in den Blick: Obwohl Australopithecus afarensis am
Boden ein echter Zweibeiner war, behielt er möglicherweise seine Fähigkeit zum
Erklettern von Bäumen bei. Das könnte ihn und seine Nachkommen davor geschützt
haben, während des Schlafens Raubtieren zum Opfer zu fallen.
4. Ein
besonders seltener und aufregender Teil des Fundes ist der Zungenbeinknochen des
Dikika-Mädchens. In seiner Gestalt ist er dem Zungenbeinknochen der
afrikanischen Menschenaffen sehr ähnlich und unterscheidet sich von dem des
modernen Menschen. Die Beschaffenheit dieses Knochens bei ausgestorbenen Arten,
mit Ausnahme des Neandertalers, ist noch völlig unbekannt. Er spielt vermutlich
eine wichtige Rolle bei der Produktion menschlicher Sprache und hilft den
Forschern, die Konstruktion und Evolution des menschlichen Sprechapparates
besser zu verstehen.
Die Aufbereitung des neuen fossilen Fundes ist noch
nicht abgeschlossen. Bisher war es noch nicht möglich, alle Teile des Skelettes
zu untersuchen. Dies betrifft vor allem die Rippen, die Rückenwirbel, die
Schlüsselbeine und ihre Bedeutung für die Fortbewegung des Australopithecus
afarensis. Nach zukünftigen weiteren Untersuchungen werden wir über ein sehr
genaues Bild des Körperbaus eines Australopithecus afarensis Babys verfügen und
können dann mehr über Verhalten, Körperproportionen und -größe sowie die
Entwicklung des Skelettes bei frühen Vorfahren des Menschen erfahren.
Das Dikika-Forschungsprojekt wurde bis 2004 vom Französischen Zentrum für Äthiopienstudien, dem Institute of Human Origins der Arizona State University, der Leakey Stiftung und der National Geographic Society finanziell und logistisch unterstützt. Seit 2004 finanziert und fördert die Max-Planck-Gesellschaft das Projekt. Das Dikika-Forschungsprojekt führt seine Feldforschungs- und Laborarbeit mit der Genehmigung und unter Federführung der ARCCH (Authority for Research and Conservation of Cultural Heritage = Behörde für die Erforschung und den Erhalt kulturellen Erbes), dem Äthiopischen Nationalmuseum und mehreren Regionalbüros in Äthiopien durch. Mehr als 40 Personen, darunter einige Wissenschaftler, haben dazu beigetragen, die Überreste des Babys freizulegen und die geologischen und Umweltbedingungen sowie die Bedeutung des Fundes zu verstehen.
Quelle: Pressemitteilung Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.