Nazi-Fluchtweg Südtirol
Archivmeldung vom 03.01.2009
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Freigeschaltet durch Oliver RandakWie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen: Eine Studie des Historikers Gerald Steinacher über die Helfer der NS-Netzwerke
Das vergilbte Ausweisbild zeigt ein ernstes Gesicht mit gepflegtem Schnurrbart, Hornbrille und dunkler Fliege. Der Mann, der am 17. Juni 1950 im Hafen von Genua den Dampfer nach Buenos Aires be-stieg, wies sich als Riccardo Klement aus, wohnhaft im Südtiroler Weindorf Tramin. An einer Überprüfung seiner Identität zeigte sich niemand interessiert.
Warum auch? Zehntausende waren es, die nach dem Krieg nach Übersee auswanderten - auf der Suche nach einer neuen Existenz. Millionen strömten nach 1945 durch Mitteleuropa: Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, Vertriebene, Staatenlose, Gestrandete, Täter und Opfer, Nationalsozialisten und Juden. In Italien, wo die Alliierten die Militärregierung bereits aufgelöst hatten, war die Zahl der Flüchtlinge besonders groß. Ein Jahr vor Klement hatte sich in Genua ein anderer vermeintlicher Südtiroler nach Argentinien eingeschifft: Helmut Gregor, geboren 1911, Mechaniker. Beide kannten einander nicht, hatten jedoch einiges gemeinsam.
Beide waren berüchtigte NS-Kriegsverbrecher, beide waren über den Brenner nach Südtirol geflüchtet und hatten sich dort mit- hilfe alter SS-Kameraden eine neue Identität zugelegt. Ihre wirklichen Namen wurden erst Jahre später bekannt: Adolf Eichmann und Josef Mengele.
Die Liste der NS-Größen, die sich nach dem Krieg relativ ungestört in Südtirol aufhalten konnten, umfasst die SS-Schergen Erich Priebke, Ulrich Greifelt, Lothar Debes und Josef Schwammberger, den österreichischen Kommandanten des KZ-Treblinka, Franz Stangl, den Linzer Gestapo-Chef Gerhard Bast und den Innsbrucker SS-Sturmbannführer Alois Schintl-holzer. Die von den Alliierten geräumte Alpenregion war neben der neutralen Schweiz das einzige deutschsprachige Gebiet, das von keiner Besatzungsmacht kontrolliert wurde.
Hierher zogen sich 1945 die Familien von NS-Größen wie Heinrich Himmler, Hermann Göring und Martin Bormann zurück. Nicht selten kreuzten sich in den Bergen die Fluchtwege von Opfern und Tätern. So waren in einer Meraner Pension KZ-Überlebende und SS-Offiziere gleichzeitig einquartiert.
Jetzt bringt erstmals ein österreichischer Historiker Licht ins Dunkel der Fluchtwege. In seinem Buch beleuchtet Gerald Steinacher Südtirols Rolle als Drehscheibe des Flüchtlingsstroms. Kriegsverbrecher konnten dort nicht nur auf ein hilfreiches Netzwerk alter SS-Kameraden und Nazi-Sympathisanten bauen, sondern auch auf aktive Unterstützung durch katholische Kirche und Rotes Kreuz. Für rund 400.000 Auswanderer aus dem zerbombten Kontinent stellte der Brenner das Tor zu einer neuen Zukunft dar.
Beliebte Anlaufstellen
Adolf Eichmann etwa wurde auf
der italienischen Seite der Grenze vom Pfarrer von Sterzing empfangen und
anschließend im Bozener Franziskanerkloster versteckt. Auch der Deutsche Orden
in Lana bei Meran und das Kapuzinerkloster in Brixen waren beliebte
Anlaufstellen. Der heimliche Marsch über alte Schmugglerpfade erschloss den
Einheimischen der Grenzregion neue Geldquellen. Neben Kaffee, Tabak, Devisen und
Sacharin wurden jetzt auch Menschen über die Grenze geschmuggelt - Juden meist
in Sechsergruppen für 4000 Schilling. Nationalsozialisten von Rang mussten
tiefer in die Tasche greifen und für den Fußweg über die grüne Grenze 1000
Schilling berappen.
Es war der Tiroler Gastwirt Jakob Strickner, der den berüchtigten Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele am Ostersonntag 1949 von Vinaders über den nahen Brenner lotste, wo ihn ein Mittelsmann erwartete. In Sterzing quartierte sich Mengele unter falschem Namen im Gasthof Goldenes Kreuz ein. Denselben Zufluchtsort wählte ein anderer prominenter Kriegsverbrecher: Erich Priebke verbrachte dort mit seiner Familie mehrere Jahre und wurde vom Stadtpfarrer katholisch getauft - eine "Wiedertaufe", mit der die Kirche reuige Sünder von der Nazi-Ketzerei befreite und wieder in die Gemeinschaft aufnahm. Sie begnügte sich freilich nicht damit, sondern leistete auch tatkräftige Hilfe bei der Beschaffung von Reisedokumenten. Zu den aktivsten Fluchthelfern gehörte der österreichische Bischof und Hitler-Verehrer Alois Hudal, der als Rektor des deutschen Priesterkollegs in Rom den aus Südtirol kommenden Nazis gerne Unterschlupf gewährte. Hudal pflegte enge Beziehungen zum von Pius XII. gegründeten päpstlichen Flüchtlingshilfswerk. Den KZ-Kommandanten von Treblinka nahm Hudal besonders herzlich auf: "Der Bischof kam in das Zimmer, in dem ich wartete, streckte mir die Hände entgegen und sagte: ,Sie müssen Franz Stangl sein. Ich habe auf Sie gewartet.'"
Ticket nach Syrien
Hudal verschaffte seinem
Landsmann Unterkunft, Geld und Beschäftigung. Nach wenigen Wochen verfügte der
für den Tod von rund einer Million Menschen mitverantwortliche Oberösterreicher
über einen Rot-Kreuz-Pass, ein Schiffticket, ein Visum und eine Stelle in einer
Weberei in Syrien. Ausführlich untersucht Steinacher die Mitschuld des
Internationalen Roten Kreuzes, dessen Archiv in Genf der Historiker erstmals
einsehen durfte. Bis 1951 stellte die total überforderte Hilfsorganisation, der
jede Erfahrung als Passbehörde fehlte, in Rom und Genua mindestens 120.000
Ausweise aus. Mit Wissen des IKRK-Präsidenten Paul Ruegger entkamen so auch
tausende Kriegsverbrecher nach Übersee.
Sie gaben sich meist als "staatenlose" Volksdeutsche aus oder legten Personalausweise aus Südtiroler Gemeinden vor, die ihnen alte Kameraden beschafft hatten. So wurde aus dem SS-Mann Eugen Dollmann, Hitlers Kontaktperson bei Mussolini, nun "Eugen Amonn", geboren in Bozen. Der Kampfflieger Hans Ulrich Rudel durfte sich über seine neue Identität als Emil Meier freuen: "Schon am nächsten Morgen bringt man mir ein Papier auf den wohlklingenden Namen Emilio Meier! Jetzt heiße ich eben Emil Meier und fahre mit diesem Namen nach Argentinien." Rudel war in "bester" Gesellschaft. Rund 500 höhere NS-Funktionäre und 50 Massenmörder wählten Argentinien als Reiseziel. Steinacher zeichnet in seinem spannenden Buch nicht nur deren Fluchtwege nach. Er demonstriert auch, wie verblüffend einfach in den Nachkriegswirren die Reinwaschung von Kriegsverbrechern funktionierte.