Direkt zum Inhalt Direkt zur Navigation
Sie sind hier: Startseite Berichte Zeitgeschichte Ex-DDR-General: Warum die NVA 1968 nicht in Prag einmarschierte

Ex-DDR-General: Warum die NVA 1968 nicht in Prag einmarschierte

Archivmeldung vom 18.08.2018

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.08.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Prager Frühling: Einwohner von Prag mit tschechoslowakischer Flagge vor einem sowjetischen Panzer
Prager Frühling: Einwohner von Prag mit tschechoslowakischer Flagge vor einem sowjetischen Panzer

Lizenz: Public domain
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Alle Erzählungen, dass die Armee der DDR, die NVA, sich am Einmarsch in die ČSSR im August 1968 beteiligt hat, sind widerlegt. Das sagt Ex-General Heinz Bilan. Gegenüber Sputnik gibt er wieder, was er von den Ereignissen vor 50 Jahren weiß und wie er diese einschätzt. Für ihn ist klar: Zu den Ursachen gehört die damalige Systemauseinandersetzung.

Heinz Bilan war Politoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR und zuletzt Generalmajor. Als in der Tschechoslowakei vor 50 Jahren der „Prager Frühling“ durch das Land zog, bis er militärisch gestoppt wurde, war Bilan Hörer an der sowjetischen Generalstabsakademie in Moskau. Der heute 87-Jährige erfuhr damals von den Ereignissen mehr durch seine Kommilitonen in der sogenannten Parallelgruppe der Tschechoslowakischen Volksarmee, der ČSLA.

„Wir hatten sehr viele Diskussionen über den ‚Prager Frühling‘“, erinnerte sich der Ex-General im Interview mit Sputnik an die Gespräche mit den Offizieren aus der ČSSR. Zu ihnen gehörten der spätere Verteidigungsminister Milan Vaclavik und dessen Politstellvertreter Tonda Brabec. So habe er viel von den Ereignissen mitbekommen, ebenso wie er in den Folgejahren Genaueres über die Rolle der NVA im August 1968 erfuhr. Auch später habe er engen Kontakt zu den tschechoslowakischen Offizieren gehabt.

Sorgen unter Militärs

„Spätestens im Frühsommer 1968 wurde es rebellisch in unserer Parallelgruppe. Da begannen bereits die großen Diskussionen.“ Die DDR-Offiziere in Moskau haben laut Bilan Informationen ihrer Armeeführung über die Vorgänge in der ČSSR und die Reaktionen der anderen sozialistischen Staaten erhalten. Auch die Militärs aus den anderen Ländern hätten sich Sorgen über die Situation und „den Fortbestand des Sozialismus in der ČSSR“ gemacht.

Dagegen hätten die tschechoslowakischen Offiziere in Moskau eine solche Gefahr nicht gesehen. „Sie räumten zwar ein, dass es feindliche Töne und giftige Blüten in dem Frühling gibt. Aber sie sahen noch nicht die Gefahr, dass es kippen kann. Das war durchgängig in der Gruppe.“ Nur eine geringe Minderheit in der gesamten ČSLA habe das anders gesehen.

Militärische Lösung war absehbar

Bilan sagte auf die Frage, wann es die ersten Informationen über einen möglichen Einmarsch der Truppen des „Warschauer Vertrages“ in die ČSSR gab, dass solche nicht zu den studierenden Offizieren in Moskau drangen. „Aber unserer militärischer Verstand und unser Wissen sagten: Das läuft auf eine militärische Lösung hinaus. Das haben wir auch unseren tschechoslowakischen Genossen zu verstehen gegeben, dass das eine militärische Lösung provoziert. Auch da gab es Widerspruch. Die Genossen haben gesagt: Das ist keine Lösung zwischen sozialistischen Staaten.“

Es habe Signale gegeben, dass „konterrevolutionäres Gedankengut“ auch in der Armee der ČSSR um sich gegriffen habe, bis in die Moskauer Gruppe hinein, begründete der Ex-Offizier die eigene Einschätzung von damals. Er habe verstanden, dass die tschechoslowakischen Militärs bei der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung in ihrer Heimat dabei sein wollten. Nur sei damit ungewollt die Konterrevolution unterstützt worden – „objektiv war es so“. „Wenn wir ihnen das gesagt haben, waren sie beleidigt“, erinnerte sich Bilan an die Diskussionen.

Monatelange Vorbereitungen

Der frühere NVA-General bestätigte, dass der militärische Einmarsch in die ČSSR bereits Monate vor dem entsprechenden Beschluss in Moskau im August 1968 vorbereitet wurde. Das sei logisch und praktisch nicht anders möglich: „Eine solche Militäroperation wie diese muss langfristig vorbereitet werden. Es müssen Planungen gemacht werden, Absprachen getroffen werden, bis hin zu den Transportmitteln.“ Das habe bis zur notwendigen Aufklärung der Lage und des Territoriums gereicht.

Doch die Intervention selbst sei in Moskau wie in Berlin immer nur als das letzte Mittel angesehen worden, hob Bilan im Interview hervor. Die Frage, ob der Einmarsch durch eine andere Politik der Kommunistischen Partei in der ČSSR (KPTsch) zu verhindern gewesen wäre, beantwortete er anders als der Ex-DDR-Diplomat Klaus Kukuk. „Wenn Dubcek als Erster Sekretär der KPTsch das so nicht sah und sehr hartleibig auf Kritiken und Ratschläge reagierte, dann war das in der Armee nicht anders. Ich glaube, dass keine Volksarmee, auch die tschechoslowakische, bereit gewesen wäre für einen Ausnahmezustand.“

Einmarsch ohne Alternative

Das habe auch 1989 für die eigene Armee in der DDR gegolten. „Wir wären niemals bereit gewesen, auf das eigene Volk zu schießen – so war das bei den Tschechoslowaken genauso.“ Deshalb sei der Einmarsch von Truppen des „Warschauer Vertrages“ vor 50 Jahren die einzige Möglichkeit gewesen. Er sei auch bis hin zur Logistik von der ČSLA unterstützt worden, stellte Bilan klar.

1972 übernahm Bilan die Funktion des stellvertretenden Kommandeurs im Militärbezirk Leipzig (MB 3). Der umfasste die acht Südbezirke der DDR, wo im Sommer 1968 während des Einmarsches in die ČSSR zwei NVA-Divisionen in Reserve lagen. So bekam Bilan näheren Einblick in die Vorgänge. Die meisten der dafür verantwortlichen Offiziere im MB 3-Kommando und der beteiligten beiden Divisionen, der 11. Mot.-Schützen-Division in Halle und der 7. Panzer-Division in Dresden, seien noch da gewesen.

NVA blieb auf eigenem Territorium

„Alle Erzählungen, dass die NVA mit einmarschiert wäre, sind schon längst ad absurdum geführt worden, und das Gegenteil längst bewiesen.“ Nur eine Gruppe Stabsoffiziere und eine Nachrichteneinheit der DDR-Armee seien in den Einmarsch einbezogen gewesen, bestätigte Bilan. Es habe sich um ungefähr 60 Soldaten und Offiziere gehandelt.

Der Grund dafür sei die Aufgabenverteilung unter den einzelnen nationalen Armeen im System des „Warschauer Vertrages“ gewesen. Die NVA blieb unter dem Oberkommando des östlichen Verteidigungssystems, das wiederum von der sowjetischen Armee geführt wurde. Deshalb waren NVA-Verbindungsoffiziere eingesetzt, wie der Ex-General erklärte. Zudem hätten sich DDR-Aufklärer in der ČSSR aufgehalten, vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und von der NVA.

Die 11. Mot.-Schützen-Division sei in die Nähe des Hermsdorfer Kreuzes verlegt worden, während die 7. Panzer-Division auf dem Truppenübungsplatz Nochten stationiert wurde. Die Aufklärungs-Bataillone beider Divisionen hätten sich in der Nähe der Grenze zur ČSSR aufgehalten. Das ist laut Bilan geschehen, weil die Einheiten im Ernstfall, „wenn es zu militärischen Handlungen gekommen wäre“, eingreifen sollten. Nach allen bekannten Informationen drohte damals kein westliches Eingreifen. Die USA hatten Moskau signalisiert, dass sie sich nicht aktiv einmischen würden.

Westliches Eingreifen befürchtet

Der Ex-General glaubt nicht, dass die tschechoslowakische Armee Widerstand geleistet hätte, „wenn überhaupt, dann einzelne Truppenteile“. Letzteres sei zum Beispiel 1956 in Ungarn geschehen, weshalb es auch in der ČSSR erwartet wurde. Informationen über zivile Widerstandsgruppen habe es nicht gegeben.

Bilan erklärte den NVA-Aufmarsch so: „Wir mussten damit rechnen, dass die USA und die Nato wortbrüchig werden. Das wäre nicht das erste Mal gewesen. Es hätte sein können.“ Er verwies dabei auf die Erfahrungen der Sowjetunion mit dem faschistischen Überfall am 22. Juni 1941 hin. Diese dürften beim Blick auf die Ereignisse nicht vergessen werden.

„Diese Erfahrung besagte: Man darf sich durch den Gegner niemals einlullen lassen. Man darf Signale nicht so abtun, wie sie Jossif Wissarionowitsch Stalin abgetan hatte: ‚Das ist eine Provokation!‘ Das waren seine Antworten auf die Informationen von Richard Sorge und anderen über den bevorstehenden Überfall. Er hat damals auch verboten, die Militärbezirke an der Grenze in Gefechtsbereitschaft zu versetzen. Diese Erfahrung haben die Freunde verinnerlicht – bis heute. Ein zweites 1941 wird es nicht geben! Das haben sie sich geschworen.“

Deshalb seien 1968 die NVA-Divisionen als zweite Staffel auf eigenem Territorium in Gefechtsbereitschaft versetzt worden. Ein weiterer Grund war laut Bilan, dass die für realsozialistische Verhältnisse reiche DDR sich an den Kosten für die Intervention beteiligen sollte.

Breschnew-Behauptung widerlegt

Der frühere General widersprach Historikern wie Manfred Wilke, die behaupten, die DDR-Führung wollte die eigenen Truppen mit einmarschieren lassen, was von Moskau verhindert worden sei. Dafür wird der damalige sowjetische Parteichef Leonid Breschnew zitiert, der ČSSR-Präsident Ludvik Svoboda zwei Tage nach dem Einmarsch erklärt habe: „Wir haben sie zurückgehalten. … Unter uns gesagt, die deutschen Genossen waren beleidigt, dass man ihnen irgendwie Misstrauen entgegenbrachte.“

Diese Aussagen seien nicht wahr, hob Bilan hervor und fügte hinzu: „Das Gegenteil ist der Fall.“ „Es war völlig klar, bis in die unterste Stufe in der NVA, dass wir, wenn wir in der Tschechoslowakei einrücken würden, es in der Bevölkerung großen Widerstand geben wird, sowohl in der DDR als erst recht in der ČSSR. Der einfache tschechoslowakische Bürger hat keinen großen Unterschied gemacht zwischen sozialistischen und kapitalistischen Deutschen, sondern nur die ‚Deitschen‘ gesehen. Das galt auch für die NVA.“

Das sei für die Partei- und Armeeführung der DDR völlig klar gewesen, betonte der Ex-General. „Das war selbstverständlich“. Deshalb sei im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Berlin und Moskau entschieden worden, die DDR-Armee bleibt in der zweiten Staffel. Er wisse ganz sicher, „dass beide Seiten denselben Gedanken hatten“. Das sei ihm in Gesprächen nach den Ereignissen mehrmals bestätigt worden.

Der ehemalige DDR-Chefaufklärer Markus Wolf, einstiger Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), hatte dazu in seinen 1997 erschienenen Erinnerungen „Spionagechef im geheimen Krieg“ geschrieben, hohe NVA-Offiziere hätten ihm damals versichert, „dass sie bis zur Nacht vom 20. auf den 21. August keine Kenntnis von der geplanten Unternehmung hatten und auch danach nicht in die Planung einbezogen wurden“.

Unterschiedliche Reaktionen

Die Reaktionen in der NVA auf die Intervention in der Nacht zum 21. August seien „sehr differenziert“ gewesen, erinnerte sich Ex-General Bilan. „Die Masse der Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere, Generale und Zivilbeschäftigten begrüßte den Schritt, den Sozialismus in der Tschechoslowakei nicht aufzugeben.“ Viele NVA-Angehörige hätten aber über die Vorgänge und Ursachen des „Prager Frühlings“ nicht im Detail Bescheid gewusst.

Es habe natürlich auch in der DDR-Armee, vor allem bei unteren Dienstgraden, Uniformierte gegeben, die nicht mit dem Einmarsch einverstanden gewesen seien. Es habe in der Folge eine Reihe von Parteiverfahren gegeben, auch Offiziere seien entlassen worden. Bilan bedauerte im Interview, dass in den DDR-Medien über die Ursachen und Zusammenhänge der Ereignisse im Nachbarland vor 50 Jahren nicht ausreichend informiert wurde.

Zur inzwischen widerlegten, aber selbst in der DDR geglaubten Legende, die NVA sei 1968 in die ČSSR mit einmarschiert, sei es gekommen, „weil es der Gegner so wollte“. Bilan ergänzte: „Deshalb hat er das hineingestreut.“ Dafür sei perfide – „wie heute auch“ – der gesamte Apparat benutzt worden, von der Wissenschaft über die Medien bis hin zur Politik.

Für den früheren Politoffizier ist ebenso klar, dass die DDR-Führung die eigenen Fehler verschwieg oder schönredete. Gleichfalls steht für ihn außer Frage, dass zahlreiche innere Probleme der ČSSR zum „Prager Frühling“ führten, ebenso das jahrelange kritiklose Befolgen von Vorgaben aus Moskau.

Eigene Fehler schöngeredet

Bilan machte darauf aufmerksam, dass beim Blick auf Ereignisse vor 50 Jahren die damalige Systemauseinandersetzung und die „Roll back“-Politik des Westens gegenüber dem Osten nicht vergessen werden darf. „Wir haben immer in einer Situation gelebt, dass der Krieg zu jeder Zeit ausbrechen kann. Die Maßnahmen der Nato und der USA waren schon lange vorher darauf ausgerichtet, den Sozialismus niederzuringen.“

Im Gespräch verwies er dabei auf das Buch „Weltordnung“ von Henry Kissinger. „Dieser Mann mag ein großer Feind des Sozialismus sein, aber dieses Buch steckt voller Wahrheiten über die Rolle der USA gegenüber dem Sozialismus. Die USA haben den Sieg über den Sozialismus immer angestrebt, seit der ersten Stunde, und haben das auch heute nicht aufgegeben. Sie sind dabei so verbissen, dass sie sogar heute die Russische Föderation als sozialistisch ansehen, als Gefahr, obwohl das genauso ein kapitalistischer Staat ist.“

Bilan zeigte sich sicher: „Ohne den Einfluss der Nato und der USA sowie deren Eindämmungs- und Umarmungspolitik darf man nichts, aber auch gar nichts beurteilen, was es in der DDR gab, was die DDR und der reale Sozialismus waren – auch nicht die Ereignisse in der ČSSR. Man darf doch die Politiker der damaligen Zeit in der DDR und der ČSSR, auch die Militärs, nicht für dumm verkaufen wollen. Wir wussten: Wer glaubt, was die im Westen erzählen, wird selig. Das gilt bis heute.“

Quelle: Sputnik (Deutschland)

Videos
Daniel Mantey Bild: Hertwelle432
"MANTEY halb 8" deckt auf - Wer steuert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?
Mantey halb 8 - Logo des Sendeformates
"MANTEY halb 8": Enthüllungen zu Medienverantwortung und Turcks Überraschungen bei und Energiewende-Renditen!
Termine
Newsletter
Wollen Sie unsere Nachrichten täglich kompakt und kostenlos per Mail? Dann tragen Sie sich hier ein:
Schreiben Sie bitte wollig in folgendes Feld um den Spam-Filter zu umgehen

Anzeige