Hintergrundinformation: 50 Jahre Strahlenunfall von Kysthym
Archivmeldung vom 22.09.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAm 29. September 2007 um 12.20 Uhr deutscher Zeit jährt sich der Strahlenunfall von Kysthym, einem Ort am Rande des Urals, zum 50. Mal. Erst im Juni 1989, 32 Jahre nach dem Unfall, wurde dieser auf einer Sitzung des Obersten Sowjet der UdSSR von dem damaligen stellvertretenden Minister L.D. Riabew bekannt gegeben.
Von den Hintergründen und dem Ausmaß erfuhr die Weltöffentlichkeit anlässlich einer Tagung der Internationalen Atomenergieorganisation im November des gleichen Jahres.
Gerüchte und Spekulationen zu dem Unfall gab es in der westlichen Welt jedoch bereits seit 1976, als der sowjetische Biochemiker und Dissident Schores Alexandrowitsch Medwedew, der 1973 aus der Sowjetunion ausgebürgert wurde und seitdem in London lebte, in der Zeitschrift New Scientist seine Recherchen veröffentlicht hatte. Diese hatten ihn zu der festen Überzeugung veranlasst, dass zwischen Herbst 1957 und Sommer 1958 ein riesiger Unfall am Rande des Urals stattgefunden haben musste, der große Flächen unbewohnbar machte.
Was war passiert?
Am 29. September 1957 explodierte in Kysthym einer von insgesamt 20 Lagerbehältern mit hochradioaktiver Abfallflüssigkeit, die hauptsächlich Caesium-137 und Strontium-90 enthielt. Der Abfall stammte aus der Produktion von Plutonium für den Bau russischer Atombomben. Betreiber der Anlage war damals und ist auch heute noch heute der Produktionsbetrieb Mayak in der benachbarten Stadt Osjorsk.
Die zylindrischen Behälter aus Stahl mit einem Volumen von jeweils zirka 250 Kubikmetern lagerten unter der Erde in einer Fassung aus Eisenbeton bedeckt von mehrere Tonnen schweren Deckeln. Darüber lag eine etwa eineinhalb Meter dicke Erdschicht. Die Behälter enthielten jeweils etwa 80 Tonnen hochradioaktiver Flüssigkeit in Form von Salzlösungen, vorwiegend Nitraten.
Der Zerfall hochradioaktiver Substanzen ist immer von starker Wärmeentwicklung begleitet, daher mussten die Behälter mit Wasser, das zwischen Behälter und Betongrube floss, permanent gekühlt werden. Das Kühlsystem eines der Behälter war unbemerkt ausgefallen. Dies führte zum Verdampfen der Flüssigkeit im Behälter. Durch die Selbsterwärmung kam es am 29. September 1957 zu einer riesigen Explosion des ausgetrockneten Salzrestes. Es handelte sich um eine chemische Explosion. Eine nukleare Explosion, also Kettenreaktion, wie in den 1970er Jahren auch vermutet, ist definitiv auszuschließen.
Die anderen Behälter waren zwar nicht direkt von der Explosion betroffen. Durch den Ausfall des Kühlsystems, der Lüftung, der Kontrollgeräte und der elektrischen Versorgung waren jedoch auch sie für längere Zeit gefährdet, konnten aber unter Kontrolle gehalten werden.
Die radioaktiven Partikel wurden bis zu 1000 Meter hoch in die Luft geschleudert und auf eine Fläche von 10 bis 40 Kilometer Breite und 300 Kilometer Länge verteilt. Insgesamt wurden nach Angaben der Produktionsfirma Majak und der Behörden 4 x 10 17 Becquerel an Radionukliden mit Beta-Strahlung freigesetzt. Diese Größenordnung ist mit dem Inventar, das anlässlich des Unfalles von Tschernobyl freigesetzt wurde, vergleichbar. Rund 90 Prozent der Radioaktivität schlugen sich auf dem Betriebsgelände nieder, 10 Prozent wurden als Radioaktivitätsfahne - auch Spur genannt - mit dem Wind in Nord-Ost Richtung zwischen Jekaterinenburg und Cheljabinsk verteilt.
Nach
dem Unfall
Trotz des Unfalls lief die Produktion in Mayak weiter. Die hohe Strahlenbelastung des Betriebsgeländes und der Umgebung erforderte dringende Dekontaminations- und Schutzmaßnahmen sowohl für die Angestellten Mayaks als auch die betroffene Bevölkerung in und außerhalb der Stadt.
In den ersten Tagen wurden Häuser, Straßen, Autos und vieles mehr in der Stadt dekontaminiert, das heißt gereinigt und große Flächen abgetragen. Diese Arbeiten wurden vom Personal des Betriebes durchgeführt und waren im Frühjahr 1958 weitestgehend abgeschlossen. Die nach Osjorsk gebrachten Lebensmittel wurden auf Radioaktivität hin überprüft. Laut offiziellen Mitteilungen konnte der radioökologische Zustand von vor der Explosion nach etwa einem halben Jahr in der Stadt wiederhergestellt werden.
Außerhalb von Osjorsk wurden 1.100 Bewohner, deren Wohnort bis zu 25 km Entfernung von der Unfallstelle lag, innerhalb von 14 Tagen, beginnend am zweiten Tag nach der Explosion evakuiert, um sie vor der Strahlung zu schützen. Die betroffenen Orte wurden nach der Evakuierung sofort zerstört. Eine Rücksiedelung, wie sie in Tschernobyl erfolgte, war damit ausgeschlossen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre wurden 24 weiter entfernte Orte mit rund 13.000 Bewohnern umgesiedelt. Insgesamt waren rund 1.000 Quadratkilometer offiziell als belastete Gebiete anerkannt, der langfristige Aufenthalt sowie jeglicher Verzehr von Nahrungsmitteln aus dieser Gegend verboten.
Wissenschaftliche Untersuchungen
Es wurden sowohl medizinische als auch radioökologische Einrichtungen gegründet, um die Belastung der Lebensmittel und den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu überprüfen und Forschungsarbeiten zur Ausbreitung radioaktiver Substanzen in Pflanzen und Tieren durchzuführen.
Die Experten dieser Einrichtung spielten später auch bei der Bewältigung des Unfalls von Tschernobyl 1986 eine wichtige Rolle. Ihre wissenschaftlichen Ergebnisse zum Kysthym-Unfall und seine Auswirkungen blieben entweder geheim oder zumindest verschlüsselt. Damit sollten Rückschlüsse auf den Unfall verhindert werden.
Etwa 1982 wurden nach langjährigen Untersuchungen etwa 80 Prozent des kontaminierten Geländes wieder freigegeben. Heute umfasst die Sperrzone noch rund 150 Quadratkilometer oder 15 Prozent der ursprünglichen Fläche. Sie wird von Soldaten bewacht.
Gesundheitliche
Auswirkungen für die Bevölkerung?
Obwohl es bis heute viele Gerüchte zu den Auswirkungen des Unfalls auf die Bevölkerung gibt, weist die damalige und heutige Betreiberin die Produktionsanlage Majak wieder und wieder darauf hin, dass es keine direkten Personenschäden gab.
Unter radioökologischen Gesichtspunkten könnte dies tatsächlich stimmen, da kurzlebige radioaktive Stoffe, wie zum Beispiel Iod-131, in Kysthym nicht ausgetreten waren. Vor allem diese kurzlebigen Isotope waren bei dem Unfall von Tschernobyl für die hohe Strahlenbelastung bei den Menschen verantwortlich gewesen. Sie hatten auch zu den akuten Strahlenschäden und kurzfristigen Folgen wie Schilddrüsenkrebs geführt.
Die Situation heute
Heute arbeiten etwa 14.000 Menschen aus der Kleinstadt Osjorsk in dem Betrieb Mayak. Die Stadt mit rund 80.000 Einwohnern ist, wie einige weitere Städte in Russland, noch immer geschlossen, das heißt, die Bevölkerung kann zwar ungehindert ein- und ausreisen. Besucher jedoch dürfen nur mit besonderen Genehmigungen die Stadt betreten. Seit Beginn der 1990er Jahre besuchten hunderte von westlichen Experten und zahlreiche Journalisten sowohl in Osjorsk als auch auf dem Gelände des Betriebes Majak sich ein Bild von der heutigen Situation machen. In großen internationalen Projekten kooperieren der Betreiber Majak sowie das strahlenmedizinische Zentrum von Osjorsk auf den Gebieten Anlagensicherheit, Dekontamination und Strahlenrisikoforschung mit westlichen Forschungseinrichtungen.
Auf dem Gelände werden im Augenblick noch zwei der insgesamt sechs Reaktoren zur Herstellung von Radioisotopen für die Forschung und die Industrie genutzt: Mayak ist eine der weltweit größten Produktionsstätten für Radionuklide. Abnehmer sind vor allem westliche Industrieländer. Weiterhin werden Brennstäbe verschiedener russischer Reaktortypen aufgearbeitet und verglast. Diese Technik wurde bei Mayak entwickelt. Darüber hinaus erarbeitet Mayak Konzepte, um die vorhandenen kontaminierten Flächen auf dem eigenen Gelände und die radioaktiven Abfälle zu beseitigen.
Das GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit als nationales Kompetenzzentrum im Bereich des Strahlenschutzes arbeitet seit Jahren mit den Experten aus Osjorsk im Rahmen internationaler Projekte zur Abschätzung des Strahlenrisikos der Mitarbeiter von Majak und der Bevölkerung von Osjorsk zusammen.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.