War Judas der treueste Jünger Jesu?
Archivmeldung vom 07.04.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEin antiker Text behauptet, dass Judas, der Verräter von Jesus Christus, eigentlich sein treuester Jünger war. Nach diesem Manuskript, das den Titel "Judas-Evangelium" trägt, bat Jesus seinen Jünger Judas, ihn an die Römer auszuliefern, um Gottes Willen zu erfüllen. Durch diesen Auftrag erscheint der größte Schurke der Bibel in völlig neuem Licht.
Die National Geographic Society präsentierte
der Öffentlichkeit heute erstmals Inhalte des Manuskripts. Der Kodex
- ein gebundener auf koptisch verfasster antiker Text - wurde in den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Ägypten entdeckt und
gelangte über Umwege zur Schweizer Maecenas-Stiftung. Die National
Geographic Society unterstützte in den vergangenen fünf Jahren die
Restaurierung und Übersetzung des Dokuments aus dem Koptischen. Alle
wissenschaftlichen Tests haben bisher die Echtheit des Manuskripts
bestätigt, das zwischen 220 und 340 n. Chr. entstand. NATIONAL
GEOGRAPHIC DEUTSCHLAND berichtet in der Titelgeschichte der
Mai-Ausgabe ausführlich über das Evangelium und die
neue Sicht auf Judas.
Die Existenz eines so genannten Judas-Evangeliums war schon sehr
lange bekannt. Bereits 180 n. Chr. hatte Irenäus, der Bischof von
Lyon, in seinem Werk "Gegen die Häresien" ausdrücklich vor der
Lektüre dieses Evangeliums gewarnt. Denn dessen Inhalt passte nicht
zu den von der Kirche ausgewählten Texten für das Neue Testament wie
die Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes.
Den Texten des Neuen Testaments zufolge starb Jesus am Kreuz,
nachdem der Apostel Judas ihn im Garten Gethsemane für 30 Silberlinge
an die römische Besatzungsmacht verraten hatte. Seither steht der
Name Judas im christlichen Kulturkreis für das Böse schlechthin. Im
jetzt restaurierten Judas-Evangelium wird der Verrat aber zur
Ruhmestat: Judas ist der Einzige, der die Botschaft Jesu versteht. Er
wird von Jesus in alle Geheimnisse eingeweiht und von ihm beauftragt,
seinem Meister einen letzten Dienst zu erweisen. In der wichtigsten
Passage des Manuskripts sagt Jesus zu Judas: «...du wirst sie alle
übertreffen. Denn du wirst den Menschen opfern, der mich kleidet.»
Die mit der Übersetzung beauftragten Religionswissenschaftler
interpretieren diese Aussage so, dass Judas Jesus zwar den Tod
brachte, ihm damit aber einen letzten Gefallen erwies. Denn mit
seiner Hilfe konnte die leibliche Hülle Jesu, die als Werk dummer
Gottheiten galt, ans Kreuz geschlagen werden. Dieses Manuskript
liefert nach fast 2000 Jahren ein neues Bild der meistgehassten
Person des Christentums. Auch die Folgen der Auslieferung sind Judas
bewusst: "Du wirst verflucht werden", hat ihn Jesus diesem Text
zufolge gewarnt.
Bei dem restaurierten Judas-Evangelium handelt es sich um einen
auf Koptisch geschriebenen Kodex, der offenbar aus dem Griechischen
übersetzt wurde. In dieser Sprache wurden im 1. und 2. Jahrhundert
die meisten christlichen Texte verfasst. Religionswissenschaftler
sind sich einig, dass die Schrift wichtige neue Einblicke in das
Denken der frühen Christen gibt. Eine große Gruppe von ihnen glaubte,
dass Judas nicht aus niederen Motiven gehandelt hat.
Nach Meinung des Augsburger Religionswissenschaftlers Gregor
Wurst, der maßgeblich an der Restaurierung und Übersetzung des
Manuskripts beteiligt war, wollte der Verfasser des Judas-Evangeliums
vor allen Dingen provozieren: "Er suchte die Herausforderung mit
anderen in der Diskussion um die ,richtige´ Jesus-Überlieferung",
schreibt Wurst in der Mai-Ausgabe des NATIONAL GEOGRAPHIC-Magazins.
Der Verfasser des Evangeliums wird dem Gnostizismus zugeordnet, einer
Glaubensrichtung, die den jüdischen Schöpfungsgedanken ablehnt.
Unabhängig vom Wahrheitsgehalt des neuen Evangeliums wird dessen
Interpretation neue Erkenntnisse über das Denken der gnostischen
Christen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts geben.
Vor seiner Restaurierung war das Manuskript über verschlungene
Wege von Ägypten nach Europa und in die USA gelangt. Bevor die
Zürcher Antiquitätenhändlerin Frieda Nussberger-Tchacos das
Judas-Evangelium im Jahr 2000 für etwa 300.000 Dollar erwarb, hatte
es stark gelitten und war so brüchig, dass es bei der geringsten
Berührung zerbröselte. Die Händlerin übergab das Manuskript der
Schweizer Maecenas-Stiftung für antike Kunst, die es in fünfjähriger
penibler Kleinarbeit restaurieren und übersetzen ließ. Die National
Geographic Society und das Waitt Institute for Historical Discovery
finanzierten diese Arbeiten. NATIONAL GEOGRAPHIC erhielt das Recht,
das vollständige Evangelium zu veröffentlichen. Der 26 Seiten lange
Text ist nach Einschätzung von Experten für das frühe Christentum die
aufregendste Entdeckung seit Jahrzehnten.
Quelle: Pressemitteilung NATIONAL GEOGRAPHIC DEUTSCHLAND