Chruschtschow, sein Schuh und eine echte Fake-Story – Das geschah vor 60 Jahren wirklich in der Uno
Archivmeldung vom 13.10.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 13.10.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Anja SchmittKaum eine Szenerie wird so oft zitiert, wie der angebliche Moment am 12. Oktober 1960, als der frühere sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow während der Uno-Vollversammlung mit seinem Schuh auf das Rednerpult gehämmert haben soll. Doch das hat so nie stattgefunden. Eine der schillerndsten Fake-Stories der Geschichte, schreibt das russische online Magazin "Sputnik".
Weiter heißt es auf deren deutschen Webseite: Das Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ein impulsiver Mensch war, manche würden ihn vielleicht sogar als cholerisch bezeichnen, das ist gut belegt. Erstaunlich ist, dass ausgerechnet das berühmteste Beispiel seiner emotionalen Ausbrüche durch nichts belegt ist, nur durch sich widersprechende und selbst referenzierende Aussagen und – tatsächlich – nur ein einziges, echtes, authentisches Foto, allerdings ohne die Benutzung des Schuhs als Hammer.
Was war geschehen?
Am 12. Oktober 1960 nahm Chruschtschow, zusammen mit Langzeit-Außenminister Andrej Gromyko an der 15. Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York teil. Die 15. Vollversammlung war am 20. September eröffnet worden. Chruschtschow war schon vor diesem Termin in den USA eingetroffen. Er hielt sich fast einen Monat in New York auf und war ein äußerst fleißiger Teilnehmer der Vollversammlung. Deshalb existieren auch eine Menge Fotos und auch einige Filmaufnahmen, nur eben nicht eine Szene, in der Chruschtschow mit seinem Schuh auf das Rednerpult oder den Tisch der sowjetischen Delegation haut.
Dienstag, 20. September 1960: Die 15. Ordentliche Sitzung Generalversammlung der Vereinten Nationen wird mit der 864. Plenarsitzung eröffnet. Einer der ersten Tagesordnungspunkte ist „Punkt 20: Aufnahme neuer Mitglieder in die Vereinten Nationen“. Das waren, neben Zypern, das einen Monat zuvor aus der britischen Kolonialherrschaft entlassen worden war, vor allem 16 afrikanische Staaten, die ebenfalls wenige Wochen zuvor ihre Nationale Unabhängigkeit von den Kolonialmächten Frankreich, Großbritannien, Italien und Belgien errungen hatten.
Mittwoch, 12. Oktober 1960: Während der 902. Plenarsitzung wird eine Resolution aufgerufen, die von der Sowjetunion eingebracht wurde. Ihr Titel: „Erklärung zur Gewährung der Unabhängigkeit für Kolonialländer und Völker“. Als erster Redner hält Nikita Chruschtschow eine Rede, in der er das Kolonialsystem vor allem Großbritanniens unter anderem als „Räuberei“ brandmarkt.
Ihm folgt der britische Delegierte, der Chruschtschows Rede als "Märchenerzählung" charakterisiert, die er korrigieren müsse. Nach den Abgesandten von Jugoslawien, der ČSSR, aus Ghana, Neuseeland, Bulgarien, Guinea und Libyen, war der Vertreter des gerade neu aufgenommenen Congo (Brazzaville) an der Reihe. Stéphane Tchichelle, Informationsminister des blutjungen Staates, der später einfach nur Kongo heißen sollte, verliest eine Nachricht von Aufständischen aus Cabinda, einer damaligen Kolonie Portugals, die heute als Exklave zu Angola gehört. Beim Verlesen wird Tchichelle dreimal vom Sitzungspräsidenten unterbrochen, was Nikita Chruschtschow in Rage brachte und schon wenige Minuten später Folgen haben sollte.
Der Abgesandte der Philippinen reizt Chruschtschow bis aufs Blut
Nach den Rednern aus Liberia und dem Irak, wird schließlich der Delegierte der Philippinen, Lorenzo Sumulong, ans Rednerpult gebeten, der Chruschtschow endgültig wütend macht, als er erklärt:„Wir sind der Ansicht, dass die von der Sowjetunion vorgeschlagene Erklärung das unveräußerliche Recht auf Unabhängigkeit nicht nur der Völker und Gebiete abdecken sollte, die noch unter der Herrschaft der westlichen Kolonialmächte stehen, sondern auch der Völker Osteuropas und anderswo, die der freien Ausübung ihrer bürgerlichen und politischen Rechte beraubt und die sozusagen von der Sowjetunion verschlungen worden sind.“
Das ruft zunächst den wütenden Protest des rumänischen Delegierten, Eduard Mezincescu, hervor, der mehrfach „zur Geschäftsordnung“ durch den Saal ruft. Versammlungsleiter Frederick Boland (Irlands ständiger Vertreter bei der Uno) zerbricht beim Versuch, Mezincescu zu mäßigen, seinen Sitzungshammer. Sumulong setzt derweil immer wieder zur Fortsetzung seiner Rede an. Doch dann schaltet sich ein sichtlich wütender Chruschtschow ein, der zuvor schon wild gestikulierend aufgestanden war, und immer wieder „Antrag zur Geschäftsordnung“ gerufen hatte. Er stürmt an das Rednerpult und beschwert sich, dass der Vertreter von Congo (Brazzaville) permanent unterbrochen wurde, aber Sumulong unbehelligt reden darf:„Aber warum hält ihn dann der Präsident, der offensichtlich mit der Kolonialherrschaft sympathisiert, nicht auf, wenn sich dieser Speichellecker des amerikanischen Imperialismus erhebt und über Dinge spricht, die völlig nichtprozessual sind? Ist das gerecht? Nein, das ist nicht fair.“
Sumulong redet weiter als Chruschtschow das Rednerpult wieder freigibt und zu seinem Platz zurückkehrt. Sumulong erklärt nur wenige Minuten später, er wolle niemanden beleidigen, aber er bekräftige: „Aber was ist mit den Ländern, die unter sowjetische Herrschaft und Kontrolle geraten sind?
Im Hintergrund tobt Chruschtschow wieder, wird aber mit seinen Rufen zur „Geschäftsordnung“ zunächst ignoriert.
Nur ein Foto mit Chruschtschow und Schuh in der Hand - Aber die Geschichte lebt
Von diesen geschilderten Momenten gibt es eine offizielle Filmaufnahme der Uno (s. auch unten - Anm.d.Red.). Doch weder darauf, noch auf dutzenden Fotos ist Chruschtschow zu sehen, wie er einen Schuh auf das Rednerpult oder seinen Tisch schlägt. Lediglich ein einziges überliefertes Foto zeigt den sowjetischen Regierungschef mit einem Schuh vor sich auf seinem Tisch.
Ein Foto, das Chruschtschow mit einem Schuh in seiner rechten Hand am Rednerpult zeigt, ist eine stümperhafte Fälschung, wird aber dennoch immer wieder als angeblich echt im Internet verbreitet. Ein kleiner Videoclip, der zeigen soll, wie Chruschtschow, am Tisch der sowjetischen Delegation stehend, mit seinem Schuh darauf herumhämmert, ist ebenfalls leicht als nicht authentisch zu erkennen, da weder die Person, die Chruschtschow darstellen soll, und erst recht nicht die Person, die Andrej Gromyko sein soll, auch nur entfernte Ähnlichkeit mit den historischen Personen haben.
Jahrzehntelang wurden ein Bericht der „New York Times“ und der „Washington Post“ als Beleg für die Schuhszene angeführt, die am Tag nach Chruschtschows Tobsuchtsanfall in der Uno-Generalversammlung ihren erstaunten bis empörten Lesern erklärten, der sowjetische Regierungschef habe seinen Schuh als Hammer benutzt.
Chruschtschows Sohn und Übersetzer bezeugten Schuhattacke
Was tatsächlich geschehen ist, darüber kursierten nach der Auflösung der Sowjetunion auf russischer Seite eine Version des persönlichen Übersetzers von Chruschtschow, Wiktor Suchodrew und von Sergej Chruschtschow, Sohn des Partei- und Regierungschefs. Demnach sei jemand Chruschtschow in die Hacken getreten, und er habe es wegen der Enge der Delegationstischreihen nicht geschafft, den Schuh wieder anzuziehen, sondern habe ihn einfach auf den Tisch vor ihm gestellt. Durch das Hämmern mit seinen Fäusten auf den Tisch, (eine Eigenart von Chruschtschow, die mit Fotos tatsächlich belegt ist), sei seine Uhr stehengeblieben, (das ständige Herumspielen mit seiner Armbanduhr war eine weitere, durch Fotos belegte Eigenart von Nikita Chruschtschow), weshalb er seinen Schuh genommen und auf den Tisch gehauen habe, um die Aufmerksamkeit des Versammlungsleiters zu erregen.
Diese Darstellungen kranken allerdings an simpler Logik. Wenn Chruschtschow tatsächlich jemand in die Hacken getreten war und er dabei seinen Schuh verloren hatte, müsste es eigentlich Aufnahmen davon geben, dass er entweder ohne Schuh an das Pult tritt, als er Sumulong Maß nimmt, (was durch Film- und Fotoaufnahmen widerlegt wird), oder am Tisch der sowjetischen Delegation ohne Schuh sitzt und der Schuh sich dauerhaft entweder auf dem Boden neben ihm oder auf dem Tisch stehend befindet (was wie bereits erwähnt, lediglich durch ein Foto belegt ist). Chruschtschow wurde während seines Aufenthaltes in den USA und bei der Uno von Fotografen regelrecht belagert und – wie es in der Fachsprache heißt – abgeschossen. Dass die Fotografenarmee ausgerechnet dieses sensationelle Motiv nicht gesehen haben soll, erscheint ausgesprochen unlogisch.
Fotoreporter im Saal verneinen später Schuhattacke
Glaubwürdiger klingen deshalb die Erklärungen von zwei erfahrenen Fotoreportern, die während der Sitzung anwesend waren und die unisono erklärten, dass ein professioneller Fotograf, der Nikita Chruschtschow nicht abgelichtet hätte, wie er in der Uno-Vollversammlung mit was auch immer auf seinen Tisch oder auf das Rednerpult einhämmert, schlichtweg unvorstellbar, weil unprofessionell ist. James Feron, damals für die britische „Times“ im Saal, wird in diesem Sinne genauso von William Taubman in seinem berühmten Artikel vom 26. Juli 2003 in der „New York Times“, „Did he bang it?: Nikita Khrushchev and the shoe”, zitiert, wie der “Life”-Magazin Reporter John Loengard.
Beide erinnern sich, dass sie gesehen haben, wie Chruschtschow, am Tisch der sowjetischen Delegation sitzend, sich nach unten beugte, seinen Schuh auszog und vor sich auf den Tisch stellte. Chruschtschow habe der am Treppengang gegenübersitzenden Delegation der damaligen Vereinigten Arabischen Republik mit grinsendem Gesicht und einer Hand angedeutet, dass er mit dem Schuh auf den Tisch schlagen wolle, es aber nicht tat, sondern den Schuh später wieder anzog. Nicht verwunderlich, dass die Fotoprofis nur den Schuh auf dem Tisch vor Chruschtschow verewigten, aber mehr eben auch nicht.
Chruschtschow und der "Speichellecker"
Auch die Schimpfwörter, die Chruschtschow dem philippinischen Gesandten an den Kopf gehauen haben soll, werden bis heute als angeblich so gesagt im Internet verbreitet und immer wieder zitiert. In Wahrheit aber hat Nikita Chruschtschow den Delegationsleiter der Philippinen "nur" Speichellecker und nicht auch noch Idiot, Trottel, Handlanger und Lakai genannt.
Tatsächlich hat Nikita Chruschtschow in seiner kleinen Wutrede zur Geschäftsordnung am 12. Oktober 1960 den philippinischen Diplomaten sehr undiplomatisch als „Speichellecker des Imperialismus“ bezeichnet, wir zitierten es. Im offiziellen englischsprachigen Protokoll der 902. Plenarsitzung der Generalversammlung wird Chruschtschow aber lediglich mit dem Wort „toady“ zitiert, was sich mit Speichellecker, aber auch mit Schleimer, Kriecher oder derberen Ausdrücken übersetzen lässt.
Einen Tag später, am Donnerstag, dem 13. Oktober 1960, ergreift Lorenzo Sumulong noch einmal das Wort und erwähnt dabei auch die Beleidigung durch den sowjetischen Regierungschef. Sumulong erklärt, ausweislich des offiziellen Protokolls der 903. Plenarsitzung: "The interpreters had difficulty in determining what he meant: 'toady', 'jerk', 'lackey' or what-not." Zu Deutsch: „Die Dolmetscher hatten Schwierigkeiten zu bestimmen, was er meinte: 'Speichellecker', 'Trottel', 'Lakai' oder wer weiß was.“
In Wahrheit also werden Nikita Chruschtschow seit Jahrzehnten die Mutmaßungen von Lorenzo Sumulong in den Mund gelegt. Was seine grobe Unhöflichkeit gegenüber dem philippinischen Diplomaten nicht mildert. Denn Chruschtschow erwiderte auf die kleine Intervention von Sumulong an diesem 13. Oktober wiederum in einer Art und Weise, die als rüpelhaft bezeichnet werden kann. Sumulong hatte ihm geraten: Er wolle als Vertreter eines kleinen, bescheidenen Landes nicht in den Wettstreit mit einem Vertreter einer Großmacht treten, auch nicht in einen Wettstreit in Gossensprache, Chruschtschow belle den falschen Baum an, („I wish to say that he is barking up the wrong tree”). Chruschtschow, obwohl an diesem Tag eigentlich zu einem ganz anderen Thema sprechend, kann es dennoch nicht lassen, Sumulong in herablassender Art zu demütigen, indem er ihn als einen nicht „grundsätzlich hoffnungslosen Mensch“ bezeichnet, dann ein Sprichwort zitiert, wonach „jedes Gemüse seine Jahreszeit“ habe und an Sumulong adressiert schliesslich erklärt: „ebenso ist dieser Herr im Reifungsprozess“.
Im Rückblick gesehen hätte Nikita Chruschtschow damals vielleicht doch besser mit seinem Schuh geklopft, statt peinliche Sprüche. Denn in der damaligen Gemeinschaft der sozialistischen Staaten und befreundeter junger Nationalstaaten gab es alles andere als begeisterte Reaktionen auf das erneute unbeherrschte Verhalten des sowjetischen Staatsmannes.
Noch eine sagenhafte Geschichte um den Schuh von Chruschtschow
Einer aber freute sich über die Schuh-Geschichte, denn ein Schuhhersteller aus Pirmasens glaubte damals, auf dem erwähnten Foto mit Chruschtschow und Schuh auf dem Tisch vor ihm, sowie auf Filmaufnahmen ein hochwertiges Modell seiner Kollektion wiederzuerkennen, wegen der „regenwurmstarken Wulst zwischen Oberleder und Sohle“, wie bundesdeutsche Medien seinerzeit berichteten, ein hochwertiger Halbschuh, den er seinerzeit in einer Stückzahl von nur 2.000 Exemplaren in die Sowjetunion exportiert hatte, allerdings als Teil einer 30.000 Stück umfassenden Lieferung von Schuhen minderer Qualität. Der „Spiegel“ zitierte am 23.11.1960 das Bundeswirtschaftsministerium mit einer entsprechenden Information. Es ist nicht bekannt, ob der Schuhfabrikant mit seinem weltberühmten, unfreiwilligen Model irgendwie geworben hat. Es wäre irreführende Werbung gewesen.
Quelle: Sputnik (Deutschland)