Trianon, Ungarn und Frankreich – Interview mit Nicolas de Lamberterie
Archivmeldung vom 10.06.2020
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Freigeschaltet durch André OttAnlässlich des 100. Jahrestages des Vertrags von Trianon, der immer noch seine Schatten auf die Politik Ungarns und Mitteleuropas wirft, interviewte Olivier Bault im Auftrag des französischen Nachrichtenmagazins Présent unseren Kollegen Nicolas de Lamberterie, Schriftsteller und Journalist bei TV Libertés (Paris) und Visegrád Post (Budapest).
Am 4. Juni 1920 wurde durch die Unterzeichnung des Vertrags von Trianon in Versailles Ungarn zwei Drittel seines tausendjährigen Territoriums entrissen und 3,3 Millionen Ungarn zu Minderheiten im Ausland gemacht. Die Ungarn sollen ihren Gram über diese nach dem Ersten Weltkrieg verhängte Verstümmelung nie verwunden haben. Hat die Mitgliedschaft in der EU das Problem nicht gelöst?
Sie konnte dieses Problem im Effekt lindern, indem das Reisen erleichtert wurde. Ungarn in Rumänien zum Beispiel sind nicht mehr so eingesperrt wie zu Ceaușescus Zeiten. Die historische Ungerechtigkeit von Trianon ist jedoch nach wie vor verletzend. Die Zwischenkriegszeit war der große irredentistische Moment unter Admiral Horthy gewesen, als 100% der ungarischen Nation für die Revision der Grenzen waren. All dies hat sich am Ende des Kalten Krieges ein wenig gemildert, aber es gibt heute keine günstige Strömung für eine Revision. Nur sehr wenige Ungarn halten es für realistisch und ernsthaft durchführbar, diese Frage erneut aufs Tapet zu bringen.
Nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 verlieh Viktor Orbán den im Ausland lebenden Ungarn die Möglichkeit der Annahme der ungarischen Staatsbürgerschaft (mit Ausnahme der Ungarn in der Slowakei, nachdem das slowakische Parlament in einer Dringlichkeitsabstimmung den Widerruf der slowakischen Staatsbürgerschaft in der Slowakei im Falle des Erwerbs einer anderen Staatsbürgerschaft vorgesehen hatte); ferner wird die Verteidigung der magyarischen Minderheiten als grundlegende Forderung angesehen, doch in den Kreisen der Regierung und des Fidesz wird nie offen davon gesprochen, dass dies an sich nur durch eine Revision der Grenzen möglich ist. Orbán hat im Gegenteil viel getan, um gute Beziehungen zu den slowakischen und serbischen Nachbarn wiederherzustellen. Mit Rumänien gelang ihm das allerdings nicht, was auch insofern einen Sonderfall darstellt, als der „tiefe Staat“ in Rumänien regelmäßig jeden Versuch sabotiert, eine Einigung mit Orbáns „illiberalem“ Ungarn zu erzielen, indem er die Phantomdrohung eines in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen ungarischen Wunsches aufrührt, in Siebenbürgen einzudringen.
Vor hundert Jahren proklamierte die Entente als Kriegsziel das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Vertrag von Trianon verstieß jedoch gegen dieses Recht gegenüber den Ungarn. Was war der Grund dafür?
Das Königreich Ungarn umfasste aus historischen Gründen nicht-magyarische Bevölkerungsgruppen: Slawen im Norden, Ruthenen in Transkarpatien, Rumänen in Siebenbürgen, Serben im Süden des Landes und Kroaten, die seit dem 12. Jahrhundert mit der Heiligen Stefanskrone von Ungarn verbunden waren. Dies war so bis ins 19. Jahrhundert, als nationale Bestrebungen unter diesen Bevölkerungsgruppen entstanden. Wenn damals das Selbstbestimmungsrecht der Völker geachtet worden wäre, wäre Ungarn unweigerlich dieser Bevölkerungsanteile verlustig geraten. Doch dieses Recht der Völker wurde aus strategischen Gründen völlig missachtet. Es wurde beispielsweise beschlossen, die ungarisch-tschechoslowakische Grenze an die Donau zu verlegen, wobei die Grenze der heutigen Slowakei weit über die von den Slowaken bevölkerten Gebiete hinaus verschoben wurde. Ebenso sollten die Rumänen, um ihnen die Kontrolle über eine Eisenbahnlinie zu geben, eine Erweiterung ihres Hoheitsgebiet lukrieren. Es gab also viele Faktoren, die Ungarn während des Vertrags von Trianon zu einem tragischen Schicksal verhalfen.
Wir sollten uns auch daran erinnern, dass die wiederholten Forderungen der Ungarn nach Referenden, um die Meinung der betroffenen Bevölkerung zu erfragen, systematisch abgelehnt wurden. Das einzige Referendum, das schließlich stattfand, betraf die Region Ödenburg/Sopron in Westungarn: in dieser Stadt, die ursprünglich von Österreich annektiert werden sollte, fand eine Erhebung ungarischer Soldaten statt, was eine Volksabstimmung im Dezember 1921 zur Folge hatte, die wiederum zur Rückkehr des Gebiets an Ungarn führte.
Der frühere britische Premierminister Lloyd George hat später gesagt, dass „alle Unterlagen, die uns einige unserer Verbündeten während der Friedensverhandlungen zur Verfügung gestellt haben, falsch und manipuliert waren. Wir haben uns aufgrund von gefälschen Tatsachen entschieden“.
Diese Art der Verhandlung ist für Lobbying- und Smoke-Screen-Aktionen charakteristisch. Als wir zum Beispiel eine „unabhängige“ Kommission entsandten, um zu prüfen, ob die Stadt Kaschau/Kassa (heute Košice) hauptsächlich von Ungarn oder Slowaken bevölkert ist, stellte sich heraus, dass diese Kommission von Leuten im Sold der Tschechen Benesch und Masaryk beschickt wurde. Diese Leute legten einen falschen Bericht vor, in dem behauptet wurde, es sei eine slowakische Stadt, und auf der Grundlage dieser Lüge wurde entschieden. Es gab solche Fälschungen, aber allgemeiner formuliert erhalten diejenigen, die keine Informationen erhalten möchten, auch keine Informationen.
In seiner hervorragenden Arbeit über den Vertrag von Trianon („Das dramatische Schicksal Ungarns“) fand der Franzose Yves de Daruvar sehr harte Worte zur Verantwortung Frankreichs. Daruvar spricht von der „erstaunlichen Unwissenheit“ Clemenceaus. Stimmen Sie dem Autor zu, dass Frankreich sich mit diesem Vertrag auf seine eigene Niederlage im Jahr 1940 vorbereitet hat?
Es ist sicher, dass Frankreich sein Bündnisspiel in Mittel- und Osteuropa, das darauf ausgerichtet war Deutschland einzudämmen, nicht gut aufgebaut hat. Die Idee war, dass die Kleine Entente – Rumänien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei – so mächtig wie möglich sein sollte und dass sie Ungarn umschließt, um auf diese Weise das ehemalige Habsburgerreich ein für alle Mal zu liquidieren. Wir führen einen Großteil der Umverteilung auf André Tardieu zurück, und danach soll Clemenceau die bestimmende Rolle gespielt haben.
Es ist wahrscheinlich etwas übertrieben, eine direkte Verbindung zwischen dem Vertrag von Trianon und der französischen Niederlage von 1940 herzustellen, aber es ist wahr, dass die Staaten der Kleinen Entente neu und fragil waren, während Länder wie Polen und Ungarn über eine tausendjährige staatliche Tradition verfühten. In den 1920er Jahren versuchte Ungarn erfolglos, eine Grenzrevision durchzusetzen und geriet angesichts der Ablehnung der Sieger von 1918 mehr und mehr in Hitlers Abhängigkeit, da Deutschland das einzige Land war, das die ungarischen Forderungen unterstützte.
Mit Deutschland im Hintergrund wäre ein polnisch-ungarisches Bündnis stärker gewesen als die Kleine Entente, zumal sich diese beiden Nationen gegenseitig schätzten. Als Ungarn Transkarpatien wiedererlangte, hatte es ab März 1939 eine gemeinsame Grenze mit Polen. Im September desselben Jahres öffneten die Ungarn jedoch während des Polenfeldzugs zum großen Zorn der Deutschen ihre Grenze für polnische Flüchtlinge, d.h. ihre Freundschaft mit Polen blieb trotz des sehr mächtigen und aggressiven deutschen Verbündeten unvermindert stark.
Wiederholt Frankreich heute wirtschaftlich nicht die gleichen Fehler, die es militärisch mit dem Vertrag von Trianon gemacht hat, während die mitteleuropäischen Staaten eher ein französisches Gegengewicht zur deutschen Wirtschaftsmacht einfordern?
Auch wenn die deutschen Eliten die sogenannten „populistischen“ Tendenzen in Mitteleuropa nicht sehr mögen, hindert dies sie nicht daran, ihre Spielsteine aus wirtschaftlicher Sicht weiter zu legen. Sie unterscheiden somit deutlich zwischen ihrer möglicherweise ideologischen Abneigung gegen diese oder jene Regierung und ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen. Heute zählt die Stimme Frankreichs, das mehr ideologisch und nicht sehr pragmatisch vorgeht, in Ungarn und Mitteleuropa nicht viel; andererseits trägt aber auch Frankreich seinerseits nicht viel dazu bei, um den Ländern dieser Region, die nach dem Fall der Berliner Mauer zum „Hinterland“ Deutschlands wurden, ein Gegengewicht zur deutschen Dominanz zu bieten.
Dieser Beitrag erschien zuerst in französischer Sprache bei Visegrád Post
Quelle: Unser Mitteleuropa