HIStory: Franz von Papens Marburger Rede und die „Konservative Revolution“
Archivmeldung vom 24.06.2023
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićHerzlich willkommen zu einer neuen Folge von HIStory! Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es denn nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 nicht deutlichen Widerspruch gegeben hat? Scheinbar widerspruchslos wurde die Transformation einer repräsentativen Demokratie in eine blanke Diktatur auch vom Bürgertum widerspruchslos hingenommen, so scheint es. Das ist sicher nicht ganz zutreffend. Dies schreibt Hermann Ploppa auf "apolut".
Weiter berichtet Ploppa: "Es gab durchaus leisen Widerspruch aus dem politischen Establishment. So hatte der damalige Präsident der Reichsbank, Hjalmar Schacht, auch mal kritische Töne gewagt. Wir berichteten bereits in unserer Sendung über Hjalmar Schacht darüber. Hier der Link zur Sendung: https://apolut.net/history-hjalmar-schacht-hitlers-zauberer/
Es gab eine stille Opposition gegen die Nazis aus dem konservativen Lager. Doch auch dieser vergleichsweise zahme Widerspruch wurde bereits im Jahre 1934 blutig niedergeschlagen. Zwei Wochen vor der Blutnacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934, bei der gemeinsam mit missliebigen SA-Funktionären auch die konservative Opposition gegen Hitler ausgelöscht wurde, hielt der damalige Vizekanzler Franz von Papen eine denkwürdige Rede im Universitätsstädtchen Marburg an der Lahn. Diese Rede wurde im Radio zur besten Sendezeit reichsweit live übertragen und erregte allgemeines Aufsehen. Als Vizekanzler Franz von Papen am 17. Juni 1934 ans Rednerpult trat, konnte niemand ahnen, dass seine Rede das Vorspiel für die Exekution der letzten Reste von Widerstand gegen Hitler sein sollte.
Franz von Papen besteigt in Berlin das Flugzeug Junkers 52. Sein Sekretär überreicht ihm das Manuskript jener Rede, die er am frühen Abend in der Aula der altehrwürdigen Marburger Universität halten soll. Papens Freund und Redenschreiber Edgar Julius Jung hat sie für ihn verfasst. Von Papen verbringt seine Zeit als Stellvertreter des Führers mit Ansprachen bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Als der Vizekanzler auf dem Flug ins mittelhessische Gießen den Text durchliest, ist ihm noch nicht klar, dass er einen politischen Sprengsatz in Händen hält.
Der ahnungslose Marburger Universitätsbund fühlt sich derweil geschmeichelt, dass ein so hochrangiger Vertreter des Staates wie von Papen ihre Vierzehnte Hauptversammlung durch seine klugen Worte aufwerten will. Die alte Aula mit ehrwürdigen Historiengemälden und historisierenden Bogenfenstern ist mit Fahnen und Blumenrabatten geschmückt. Verbindungsstudenten im vollen Wichs umrahmen das Publikum. Die anwesenden SA-Männer passen eigentlich in ihrer plebejischen Grobheit nicht so wirklich ins Bild.
Während Franz von Papen seine Rede hält, verlassen aber schon die ersten Corps-Studenten den Saal. Sie schicken umgehend ein Protesttelegramm an Hitler. Die SA-Männer stampfen Wut schnaubend hinterher. Das bürgerliche Publikum jedoch bleibt sitzen, gefesselt von den mutigen und klaren Worten des Vizekanzlers. Denn höflich aber bestimmt äußert von Papen herbe Kritik am sich mühsam durch die Zeit stümpernden Nazi-Regime. Der Text mahnt die neuen Oligarchen, sich nicht allzu selbstherrlich aufzuführen. Ein Mindestmaß an Meinungs- und Pressefreiheit müsse gewahrt bleiben. Vor allem sollen sich die Nazi-Herren nicht allzu sehr von den gemeinsamen abendländischen Werten des Christentums entfernen und einem halbreligiösen Materialismus huldigen. Deutlich gegen die SA gemünzt sind rhetorische Hiebe gegen 150-prozentige Nazis.
Reichspropagandaminister Goebbels ist gemeint, wenn von Papen zum Vortrag bringt: „Die Presse wäre ja eigentlich dazu da, die Regierung darüber zu unterrichten, wo sich Mängel eingeschlichen haben, wo sich Korruption eingenistet hat, wo schwere Fehler gemacht werden, wo ungeeignete Männer am falschen Platze stehen, wo gegen den Geist der deutschen Revolution gesündigt wird. Ein anonymer oder geheimer Nachrichtendienst, mag er noch so trefflich organisiert sein, vermag nie diese Aufgabe der Presse zu ersetzen. Denn der Schriftleiter steht unter gesetzlicher und gewissensmäßiger Verantwortung; die anonymen Lieferanten von Nachrichten dagegen sind unkontrollierbar und der Gefahr des Byzantinismus ausgesetzt. Wenn aber die berufenen Organe der öffentlichen Meinung das geheimnisvolle Dunkel, welches zur Zeit über die deutsche Volksstimmung gebreitet scheint, nicht genügend lichten, so muss der Staatsmann selber eingreifen und die Dinge beim Namen nennen.“<1>
Der Redetext wagt es, das seit dem Sommer 1933 erzwungene Parteienmonopol der NSDAP langfristig in Frage zu stellen: „Die Vorherrschaft einer einzigen Partei anstelle des mit Recht verschwundenen Mehrparteiensystems erscheint mir geschichtlich als ein Übergangszustand, der nur so lange Berechtigung hat, als es die Sicherung des Umbruchs verlangt und bis die neue personelle Auslese in Funktion tritt. Denn die Logik der antiliberalen Entwicklung verlangt das Prinzip einer organischen politischen Willensbildung, die auf Freiwilligkeit aller Volksteile beruht. Nur organische Bindungen überwinden die Partei und schaffen jene freiheitliche Volksgemeinschaft, die am Ende dieser Revolution stehen muss.“
Redenschreiber Edgar Jung postuliert trotzig eine transzendentale Instanz, die über der hierarchischen Spitze der NSDAP stehen müsse: „Eine antidemokratische Revolution kann nur dann zu Ende gedacht werden, wenn sie mit dem Grundsatz der Volkssouveränität bricht und wieder zu dem der natürlichen und göttlichen Herrschaft zurückkehrt.“
Als von Papen das Podium verlässt, begleitet ihn langer, warmer Beifall. Es folgt noch ein Rahmenprogramm. Vom Präsidenten des Universitätsbundes lässt sich Papen nämlich das Schloss, die Oberstadt und die Elisabethkirche zeigen. Dann wirft er sich noch in die Fluten des öffentlichen Luisa-Bades, bestaunt von badebehosten Mittelhessen. Beim Abendessen im Europäischen Hof fehlt allerdings bereits Marburgs politische Elite. Der von den Nazis eingesetzte Oberbürgermeister hat derweil längst die Geheime Staatspolizei alarmiert. Von Papen tritt dessen ungeachtet in bester Laune seine Heimreise nach Berlin an.
Was sich nun allerdings abspult, steht in seiner Grausamkeit in keinem Verhältnis zum Anlass. Nachdem Goebbels die reichsweite Ausstrahlung der Rede im Radio nicht mehr verhindern konnte, verfügt er ein Veröffentlichungsverbot in den gleichgeschalteten Presseorganen. Trotzdem hat der Marburger Publizist Hermann Bauer den Text aus dem Radio stenographiert und schickt Kopien in Umlauf. Was ihm einige Tage Haft einbringt. Kommunistische Zellen werfen Kopien aus Eisenbahnzügen. Jung hat in Papens Germania-Druckerei die Rede kopieren und in Umlauf bringen lassen. In der Schweiz, den USA, Großbritannien oder in Frankreich erscheinen Auszüge des Redetextes auf den ersten Seiten der großen Zeitungen.
Franz von Papen wird Ende Juni für vier Tage von der SS unter Hausarrest gestellt. Sein Telefon ist stillgelegt. Als am 30. Juni Hitler und seine engsten Gefolgsleute die SA-Führung entmachten und liquidieren, werden im gleichen Aufwasch konservative Politiker wie zum Beispiel der ehemalige Reichskanzler Kurt von Schleicher umgebracht. Aber auch Franz von Papens engste Mitarbeiter Herbert von Bose, Günther von Tschirschky, Erich Klausener, der Führer der Katholischen Aktion, sowie der Autor der Marburger Rede, Edgar Jung, werden kurzerhand erschossen. Tschirschkys Sekretärin kommt ins Konzentrationslager.
Von Papen, immer noch – rein formal jedenfalls – stellvertretender Chef des Hitler-Kabinetts, reagiert auf all diese Repressionen und Demütigungen höchst zwiespältig. Zum einen erwirkt er die Herausgabe der sterblichen Überreste seines treuen Pressereferenten Herbert von Bose, und hält auf der Beerdigung eine Rede. Auf der anderen Seite beobachtet fassungslos am 21. Juni der Botschafter der USA, William E. Dodd, wie auf einer Pressekonferenz von Papen dem Propagandaminister Goebbels herzlich die Hand schüttelt. Und von Papen lässt Hitler brieflich am 14. Juli wissen: „… habe ich das Bedürfnis, Ihnen, wie einst am 30. Januar 1933, die Hand zu drücken und zu danken für alles, was Sie durch die Niederschlagung der beabsichtigten zweiten Revolution und durch die Verkündung unverrückbarer staatsmännischer Grundsätze dem deutschen Volke neu gegeben haben. Schmerzvolle tragische Umstände haben verhindert, daß ich zum erstenmal seit dem 30. Januar nicht an Ihrer Seite erscheinen konnte.“ <2>
Papen tritt jedoch als Vizekanzler zurück. Noch im selben Jahr dient von Papen seinem Führer bereits wieder als deutscher Botschafter in Wien. Der katholische Herrenreiter aus Westfalen ist vom Steigbügelhalter Hitlers zu dessen devotem Diener verkommen. Er nimmt seine Unterwerfung klaglos in Kauf, um wenigstens symbolisch noch ein bisschen in der ersten Liga mitspielen zu dürfen.
Denn eigentlich verfügte Franz von Papen über jene unverzichtbaren exzellenten Beziehungen, mit denen er Hitler den Weg ins Kanzleramt zu ebnen wusste. Dabei war von Papen selber bis zum Jahre 1932 ein unbedeutender Hinterbänkler im deutschen Reichstag. Doch plötzlich ist er da. Auf die große politische Bühne des Reichskanzleramtes hebeln von Papen 1932 seine Beziehungen zur Reichswehr und zum Herrenklub. Kein Witz. Der hieß wirklich so. Der Deutsche Herrenklub war 1924 gegründet worden. Er ging hervor aus dem Juniklub von 1919, in dem sich gesellschaftlich einflussreiche Persönlichkeiten versammelten, um gegen den Versailler Vertrag zu arbeiten. Anstelle einer Partei wollte man sich als einflussreiche Lobby-Gruppe einsetzen für die “Diktatur eines parteifreien, aber programmfesten starken Mannes … auf dem Boden des politischen Machtwillens der gegliederten Volksgemeinschaft”.
Im Herrenklub sind Herrenmenschen aus Industrie, Hochfinanz sowie intellektuelle Stichwortgeber versammelt. Man lehnt Demokratie ab und macht sich stark für einen autoritären Ständestaat im Mussolini-Stil. Religiöse Rhetorik darf auch nicht ganz fehlen.
Im Jahre 1932 soll Franz von Papen dann auf Drängen des Generals Kurt von Schleicher den ebenso wirtschaftsliberalen wie glanzlosen Reichskanzler Heinrich Brüning ablösen. Ganz Deutschland staunt. Wer zum Teufel ist denn dieser Franz von Papen? Nie gehört.
Von Papen besetzt sein Kabinett mehrheitlich mit Herrenklub-Leuten. Die preußische Landesregierung ersetzt er durch einen Staatskommissar – nämlich durch sich selbst. Gerne möchte die Herrenklub-Elite unter sich bleiben und den Pöbel von Proletariern und deklassiertem Mittelstand aus den politischen Tagesgeschäften heraushalten. Noch glaubt man, dass der linkische Aufsteiger Hitler, dem man erstmal das Essen mit Messer und Gabel beibringen musste, mit seiner Proles in der Nazipartei als Juniorpartner und Wachhund gegen die niederen Stände in das Herrenmenschenkonzept eingebunden werden kann.
Franz von Papen bekennt sich in einer Wahlrede im November 1932 ganz offen zu diesem Programm und verleiht gleichzeitig seiner Enttäuschung Ausdruck, dass Hitler nicht liefert: „Wie hatten wir seinerzeit den Kampfruf Hitlers gegen den Marxismus und für die nationale Erneuerung begrüßt! Wie hatten wir gehofft, dass er die der bolschewistischen Lehre verfallene Arbeiterschaft der nationalen Sammlung zuführen sollte. Indes, sein Einbruch in die Reihen der roten Front ist nur gering geblieben. Und das ist sicher nicht die Schuld dieser Regierung, die ihm und seinen Propagandamethoden zum letzten Wahlkampf und auch heute so freie Hand wie nur möglich gelassen hat.“
Und bei eben dieser Reichstagswahl im November 1932 verlieren die Nazis tatsächlich zwei Millionen Wählerstimmen! Um nicht jetzt die erstarkte Linke zum Zuge kommen zu lassen, muss von Papen nun auch noch den am Rande des finanziellen Kollapses laborierenden Nazis zur Macht verhelfen. Mittlerweile hatte General Kurt von Schleicher den Herrenreiter von Papen aus dem Sattel der Reichskanzlei gekippt und machte selber den Reichskanzler. Doch Meister-Intrigant Franz von Papen schmiedet mithilfe amerikanischer und deutscher Bankiers und Industrieller einen Komplott gegen von Schleicher. Eine Koalitionsregierung aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei macht kurzerhand am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler. Franz von Papen ist Hitler im Vizekanzleramt als Aufpasser zur Seite gestellt. Hitler wird zudem von den konservativen Ministern Alfred Hugenberg und Franz Seldte, sowie von einigen Herrenklub-Politikern wie zum Beispiel Konstantin von Neurath eingerahmt. Aber bekanntlich vertauschen sich schnell die Rollen von Ross und Reiter. Alfred Hugenberg scheidet bereits im Sommer 1933 aus dem Kabinett aus, und Franz Seldte wird mit mehr oder minder sanftem Druck veranlasst, seine Stahlhelmorganisation in der SA aufgehen zu lassen.
Doch von Papen bleibt. Denn als apostolischer Geheimkämmerer „di spada e cappa“ hat er jederzeit Zugang zum inneren Zirkel des Vatikans in Rom und zum päpstlichen Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. Papen handelt für Hitler das berühmte Konkordat aus. Damit ist das Nazi-Regime auch international salonfähig. Dass von Papen bis zum 17. Juni 1934 irgendwelche Probleme mit dem Naziregime gehabt haben könnte, ist bis dato niemandem aufgefallen.
Der apostolische Geheimkrämer von Papen ist nicht der Mann, der mit eigenen Vorstellungen politische Paradigmenwechsel auslösen könnte. Hans Kroll, der im Zweiten Weltkrieg mit Papen zusammen die deutsche Botschaft in der Türkei führte, urteilt in seinen Erinnerungen: „… ich habe in den Jahren der gemeinsamen Arbeit bei ihm vergeblich nach planvoll und systematisch aufgebauten politischen Konzeptionen gesucht, die man schließlich von einem ehemaligen Reichskanzler mit Recht erwarten konnte.“
Von Papen gerät in eine gefährliche Situation, die ihm sein Marburger Auftritt unvermutet beschert hat, weil seine Mitarbeiter Jung, von Bose, Tschirschky und Klausener ihn für ihre Zwecke eingespannt haben. Die vier Männer konspirieren tatsächlich gegen Hitler und benutzen von Papen sozusagen als Trägerrakete auf politisch herausragender Flughöhe, um ein Geschoß gegen Hitler abzufeuern. Die Vier gehören zu einem Kreis von Konservativen, die in ihren Grundpositionen nicht allzu weit von den Nazis entfernt sind. Edgar Jung beispielsweise hatte im Freikorps von Epp die Münchner Räterepublik zusammenkartätscht und später einen pfälzischen Separatisten ermordet.
Edgar Jung gehört neben Arthur Moeller van den Bruck zu den profiliertesten Theoretikern der extremen Rechten. Beide sind zudem Mitglied im Herrenklub. Und beide verwerfen den Liberalismus als artfremden Politikimport aus den westlichen Ländern.
Edgar Jungs Hauptwerk trägt den Titel: „Die Herrschaft der Minderwertigen“. <3> Das voluminöse Pamphlet erreicht eine Auflage von 20.000 Exemplaren. In elitären Zirkeln wird es durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen. Fern jeder rationalen Auseinandersetzung raunt und wähnt das Buch seine Weltanschauung. So heißt es dort: an die Stelle des zügellosen Individualismus hat eine organische, autoritäre Gesellschaftsordnung zu treten, die sich von Gott herleitet. Es soll im Prinzip wieder werden wie im Mittelalter. Ein Monarch an der Spitze. Eine sich selbst reproduzierende und züchtende Herrenkaste und auf der anderen Seite das Arbeitsvolk. Hierarchisch in Stände gegliedert. An die Stelle einer Nation tritt das Reich. Das ist für Jung eine konzentrische Staatenföderation: „minderwertige“ Völker und Staaten begeben sich willig unter die dominanten Fittiche der höherwertigen deutschen Völkerschaft. Anders als der Titel vermuten lässt, distanziert sich Jung allerdings ausdrücklich von der eugenischen Agenda der Nazis. Auch das christliche Fundament seiner Argumentation ist nicht auf Anhieb kompatibel mit den neuheidnischen Ansichten eines Heinrich Himmler oder eines Alfred Rosenberg.
So geht Jung 1933 zunehmend auf Distanz zu den frisch inthronisierten Nazis. Jung baut ein Netz von Kontakten auf, um gegen Hitler zu putschen. Er erwägt sogar, ihn persönlich „wegzuknallen“<4>. Jung übersieht, dass er keine Divisionen gegen die mittlerweile übermächtigen Nazis aufbieten kann. Denn die Nazi-Verbände, die nazifizierte Polizei und die Reichswehr verfügen über das Gewaltmonopol. Jung überschätzt das Potential für eine Revolte. Zwar murrt das Volk und ist genervt wegen der ständigen Übergriffe und Exzesse der SA. Wegen des schleppenden wirtschaftlichen Fortschritts. Wegen der Gängelei in allen Lebensbereichen. Wegen steigender Lebensmittelpreise. Der Volksunmut ist immerhin so groß, dass Reichspropagandaminister Goebbels eine Kampagne gegen das „übertriebene Kritikastertum“ in Gang bringt.
Doch nach wie vor setzt Jung ausschließlich auf ein Umdenken bei den Eliten. Das Volk möchte er entpolitisieren. Die Adressaten seiner Konspiration sind eben jene Konservativen Kreise, die außerhalb der NSDAP autoritäre Konzepte ausgebrütet haben: der Kreis um Ernst Jünger, um Ernst Niekisch, oder auch um Otto Strasser, um nur einige zu nennen. Aber diese Kreise sind isoliert und ihre Vorstellungen unmöglich auf eine Linie zu bringen. In Fragen wie Nation, Volk, Rasse, Sozialpolitik, Wirtschaftsordnung streben die verschiedenen rechten Gravitationszentren vollkommen unterschiedliche Lösungen an, die einander ausschließende Strategien erfordern <5>. Und jene christlichen Kreise, die gegen Hitler opponieren, werden gerade von Papen und den Kirchenhierarchen heftig bekämpft.
Bleiben als einzige potentielle Verbündete konservative Kreise in der Reichswehr. Jung kann nicht wissen, dass Hitler sich gerade in diesem Augenblick mit Reichswehrminister General Blomberg geeinigt hat, die allseits verhasste SA zu entmachten und zu entpolitisieren.
Und schließlich – Ironie der Geschichte: die von Jung so inbrünstig beschworenen Eliten sind – anders als Teile des gemeinen Volkes – mit Hitler sehr einverstanden. Die Autoindustrie, die in Deutschland schon so lange auf ein Startsignal gewartet hat, kann nach Hitlers Befürwortung des Autobahnbaus ein saftiges Plus verzeichnen. Die Reichswehr-Generäle bekommen durch Reichsbankpräsident Schacht mit seinen waghalsigen Finanzierungen durch die Krypto-Währung „Mefo“ nie geahnte Expansionsaussichten geboten.
Diesem vielversprechenden Konjunkturprogramm will der unglückselige Jung ein hartes Austerity-Konzept entgegensetzen, das dem leidgeprüften einfachen Volk weitere Dekaden im enggeschnallten Gürtel aufbürden soll. Denn Edgar Jung predigt: die individualistische Gesellschaft entwickelt nur immer höhere Ansprüche auf gestiegene Löhne, höhere Lebenserwartung und baut zu große Städte. Männliche Kriegsdienstverweigerung und weiblicher Gebärstreik sind die Folge. Jung fordert stattdessen christliche Selbstbeschneidung und Aufopferung für das organische Gesellschaftsgefüge. Hätte sich der Kreis um Jung gegen Hitler durchgesetzt, wäre vermutlich eine Hungerdiktatur wie nebenan in Österreich unter Bundeskanzler und Frontführer Kurt von Schuschnigg dabei herausgekommen.
Aber vielleicht hatte Edgar Jung doch noch Verbündete in der Reichswehr gefunden? Der Wirtschaftsoffizier Oberst Georg Thomas im Reichswehrministerium fragt in einer Denkschrift, veröffentlicht drei Tage nach der Marburger Rede: „Warum wird das Volk nicht dazu angehalten, Entbehrungen und Einschränkungen auf sich zu nehmen, um die Wirtschaftsnot zu überwinden?“ <6> Hitlers Volkswagenkonzept sei ein „unverantwortlicher Raubbau an unseren Gummi- und Betriebsstoffvorräten.“
Nachdem die Nazis auch noch ihre konservativen Rivalen aus dem Weg geräumt hatten, war Franz von Papen politisch isoliert. Hitler schob ihn auf den Posten des deutschen Botschafters in die ferne Türkei ab. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird auch der päpstliche Meister-Intrigant Franz von Papen beim Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal auf die Anklagebank gesetzt. Doch dank der Marburger Rede aus dem Jahre 1934 kann von Papen seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Der ehemalige Reichskanzler und Steigbügelhalter für Hitler und Konsorten wird in Nürnberg freigesprochen und kann unbesorgt seinen Lebensabend genießen.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Anmerkungen
<1> Wortlaut aus: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Nürnberg 1948. Bd. 16, S. 322f.
<2> a.a.O. S. 403
<3> Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. 3., veränderte Auflage. Berlin 1930.
<4> Einen konzisen Einstieg in Leben und Werk Edgar Jungs liefert die Proseminararbeit von Tobias Jaecker: „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik: Edgar Jung und ,Konservative Revolution’. 1998. https://www.jaecker.com/1998/08/antidemokratisches-denken-in-der-weimarer-republik/
<5> Über die Unvereinbarkeit der verschiedenen konservativen Positionen in der Weimarer Republik: Stefan Breuer: Die Konservative Revolution – Kritik eines Mythos. Politische Vierteljahresschrift 31. Jg. 1990. Heft 4 S.585-607. www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr221s.htm
<6> Zitiert nach Heinz Höhne: Die Zeit der Illusionen. 1991 Düsseldorf/Wien/New York. S.190
Quelle: apolut