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Der Tuareg-Aufstand in Westafrika: Eine neue Studie aus anthropologischer Perspektive

Archivmeldung vom 30.01.2014

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 30.01.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Prof. Dr. Georg Klute, Universität Bayreuth
Quelle: Foto: Chr. Wißler; zur Veröffentlichung frei. (idw)
Prof. Dr. Georg Klute, Universität Bayreuth Quelle: Foto: Chr. Wißler; zur Veröffentlichung frei. (idw)

Vor mehr als 20 Jahren brach in Mali ein bewaffneter Konflikt zwischen den Tuareg und der Zentralregierung des westafrikanischen Staates aus, der auch 2013 Schlagzeilen machte. In seiner neuen Monographie „Tuareg-Aufstand in der Wüste“ analysiert der Bayreuther Ethnologe Georg Klute die Ursachen, Ziele, Strukturen, Abläufe und Erscheinungsformen dieser Auseinandersetzung. Dabei geht es nicht allein um eine Rekonstruktion politischer und militärischer Ereignisse. Vielmehr hat der Autor seine Studie als „Beitrag zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges“ angelegt, der grundlegende Fragen von Herrschaft, politischer Ordnung, Krieg und Konfliktregulierung in den Blick nimmt.

Die Untersuchung ist aus jahrzehntelangen, weit in die 1990er Jahre zurückreichenden Forschungsarbeiten hervorgegangen. In vielen mehrmonatigen Feldforschungen hat Georg Klute, Professor für Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth, zahlreiche Akteure kennengelernt, die an den bewaffneten Konflikten beteiligt waren; einige von ihnen hatten maßgebliche politische oder militärische Funktionen inne. So entstand ein Netzwerk vertrauensvoller Kontakte, das aufschlussreiche Beobachtungen und Gespräche vor Ort ermöglichte und die wissenschaftliche Arbeit entscheidend förderte.

Von der empirischen Beobachtung zur theoretischen Erschließung

Methodisch ist die Studie einer Herangehensweise verpflichtet, die in der Ethnologie unter der Bezeichnung „Dichte Beschreibung“ bekannt ist. Sie zielt in einem ersten Schritt darauf ab, Ereignisse und Prozesse präzise zu beobachten und so zu beschreiben, wie sie von den jeweiligen Akteuren gedeutet werden. Dies verlangt dem Wissenschaftler eine ausgeprägte Fähigkeit zur Empathie ab. Denn nur so entsteht eine Darstellung, die deutlich macht, wie die handelnden Personen ihre jeweilige Lebenswirklichkeit gedanklich ordnen. Diese Sinngebungen gilt es dann aber in einem weiteren Schritt zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen – mit dem Ziel, theoretische Zusammenhänge und Strukturmodelle freizulegen, die über die beobachteten Prozesse hinausweisen und eben dadurch ein vertieftes Verständnis ermöglichen.

Ursprünge der Tuareg-Aufstände im arabischen Exil

Die Aufstände der Tuareg in Mali und Niger gingen von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen aus, die Anfang 1990 aus Algerien und Libyen in ihre Heimatländer zurückkehrten. Im Exil hatten sie Organisationen gegründet, die eine eigenständige ethnische Identität der Tuareg behaupteten und daraus die Forderung nach exklusiven Minderheitsrechten ableiteten. Dabei ließen sie sich von der Ideologie einer revolutionären, direkten Demokratie beeinflussen, die Muammar al-Gaddafi propagiert hatte, oder von dem Vorbild einer nationalen palästinensischen „Befreiungsbewegung“. Einige von ihnen hatten Kampferfahrungen in der „Islamischen Legion“ gesammelt, einer von Libyen geförderten paramilitärischen Organisation. Für die bewaffneten Aufstände gegen die Zentralregionen in Mali und Niger schlossen sich die Tuareg in kleinen beweglichen Gruppen zusammen. Sie entwickelten eine effiziente Form des Kleinkriegs, den die Armeen der beiden Staaten bald zu imitieren versuchten.

„Poesie der Revolte“

Unter diesem Titel hat Klute erstmals neuere Lieder und Gedichte der Tuareg ins Deutsche übertragen und in ihrem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang untersucht. Die Texte behandeln die Lage im Exil, die Geschehnisse während der Rebellion sowie die politische Situation nach dem Friedensschluss. Bei den Autoren handelt es sich um Tuareg aus der nordmalischen Region Kidal, die im Exil versuchten, ihre Gedanken und Emotionen dichterisch zu verarbeiten. Damit wurden sie bald zum Vorbild für die poetische Produktion in anderen Tuareggebieten. Ihre mündlich überlieferte Dichtung ist, wie die Studie zeigt, ein reiner „Binnendiskurs“. Sie ist damit viel aufschlussreicher für das Verständnis der bewaffneten Konflikte als die französischsprachigen Verlautbarungen der Tuareg gegenüber externen Zielgruppen.

Migration: Orientierung an bewährten Formen

Die Migrationsbewegungen der Tuareg und ihre Erfahrungen im Exil bilden einen weiteren Schwerpunkt des Buches. Der Bayreuther Ethnologe betont das „Beharren auf bewährten Formen“ und zeigt, dass alte nomadische Wanderungsmuster ungebrochen wirksam waren, als die Tuareg in die nördlichen arabischen Staaten aufbrachen oder in ihre Heimatländer zurückkehrten. Das arabische Exil erwies sich dabei keineswegs als ein „Melting pot“, der Herkünfte aus verschiedenen Tuareggebieten verschwimmen ließ. Im Gegenteil: Die Tuareg erlebten im Exil, dass sie als Bürger ihrer jeweiligen Herkunftsländer identifiziert wurden, und hielten an vorhandenen Abgrenzungen fest. Generell weist Klute deshalb darauf hin, dass die postkolonialen Staaten in Afrika von den jeweiligen Bevölkerungen keineswegs als künstliche Gebilde erlebt werden, sondern bis heute einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Herausbildung kultureller und sozialer Identitäten haben.

Krieg und Zeit: Die Technik des Streitwagens

Eine Besonderheit der Studie sind die Analysen zur Kriegführung der Tuareg, die von intelligenter Flexibilität geprägt ist. Schnelligkeit und Beweglichkeit verschaffen ihnen im Kleinkrieg erhebliche Vorteile gegenüber den eher schwerfällig operierenden Truppen der Zentralregierung. Die Tuareg nutzen dabei die Technik des Streitwagens. Sie rüsten zivile Fahrzeuge für militärische Einsätze um und suchen mit diesen wendigen, schnellen Vehikeln punktuelle Nahkämpfe, aus denen sie sich ebenso rasch zurückziehen können. An diesem Beispiel arbeitet Klute heraus, dass Raum und Zeit keine absolut unveränderlichen „Behälter“ darstellen, sondern vielmehr soziale und kulturelle Kategorien sind. Der flexible Umgang mit ihnen begründet eine überlegene Form der Kriegführung, wenn dem Gegner diese Wendigkeit fehlt.

Unbeschränkter Krieg: Eskalation der Gewalt

Eine ausführliche Betrachtung gilt der Zeit vom Frühjahr 1994 bis zur Jahreswende 1994/95, als in Mali die Gewalt massiv eskalierte und der Krieg in einem Genozid zu enden drohte. Hatten die Rebellen bis dahin eine gemäßigte Form der Kriegsführung praktiziert und ihre Angriffe gezielt nur auf bewaffnete Gegner gerichtet, kam es plötzlich auf beiden Seiten zu einer Entgrenzung der Gewalt. Es entstand „eine außerordentlich große Eigendynamik, die alle Konfliktparteien von Rachezug zu Rachezug trieb. Es war so, als bestimmte nicht mehr der Wille der Menschen den Lauf der Ereignisse, sondern als wäre ihr Handeln von den Ereignissen beherrscht, auf die sie immer nur reagierten.“ Der Autor diskutiert verschiedene, letztlich unbefriedigende Erklärungsansätze und gibt zu bedenken: „Es scheint mir, als könnten Menschen der Tatsache nur schwer ins Auge sehen, dass Gewalt keine besondere Ursache und keinen besonderen Anlass außerhalb ihrer selbst braucht.“

Auf dem Weg zu neuen Formen staatlicher Ordnung

In den 1990er Jahren wuchs den Häuptlingen der Tuareg-Stämme im Norden Malis eine immer größere Bedeutung zu. Sie agierten oft als Vermittler zwischen den Rebellen, die sich gegen ein ‚kleinteiliges’ Stammesdenken wandten und eine einheitliche Tuareg-Nation forderten, und der Zentralregierung, die keine territorialen Abspaltungen zulassen wollte. Dabei gaben sie Anstöße zu Reformen, die eine stärkere Dezentralisierung von Verwaltungsstrukturen förderten. Einen besonders interessanten Verlauf nahm die Entwicklung im Adagh, einem Tuareggebiet nordöstlich von Timbuktu. Hier hat sich eine Konstellation herausgebildet, für die Klute den Begriff der „regionalen Parasouveränität“ einführt. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zentralstaat einzelne Bereiche seiner Souveränität an andere politische Akteure – beispielsweise einer Gruppe von Häuptlingen – abtritt. Diese Abtretung bleibt auf eine bestimmte Region beschränkt, die Teil des Staatsgebietes bleibt und keineswegs ganz aus der gegebenen politischen Ordnung herausgelöst wird.

Die Entwicklung in Mali zeigt aus der Sicht des Autors beispielhaft, wie die Schwäche des Zentralstaats ethnischen Gruppen die Chance bieten kann, „eigene, in ihrer Tradition begründete Organisationsvorstellungen erfolgreich gegen das staatliche Organisationsmodell durchzusetzen.“ So erinnert ein Blick auf Afrika daran, dass eine zentralstaatliche Ordnung, wie sie in den Ländern Europas heute scheinbar selbstverständlich etabliert ist, in Wahrheit aus langwierigen konfliktreichen Prozessen hervorgeht.

Quelle: Universität Bayreuth (idw)

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