Wurde die Mauer 1989 aus Versehen oder absichtlich geöffnet?
Archivmeldung vom 05.02.2018
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Freigeschaltet durch André OttZweifel an der Erklärung, dass der hochrangige SED-Funktionär Günter Schabowski am 9. November 1989 versehentlich für die Maueröffnung sorgte, äußert ein Journalist anhand deutlicher Indizien. Ein Augenzeuge meint: Schabowski hat nicht gewusst, was er auslöst, berichtet das russische online Magazin "Sputnik".
Weiter heißt es auf der deutschen Webseite: "Die Berliner Mauer an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin hat am Montag die Stadt so lange nicht mehr getrennt, wie sie diese vom 13. August 1961 bis 9. November 1989 teilte. „Wurde sie wirklich aus Versehen geöffnet?“, fragte der freie Journalist Uwe Soukup in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) am 4. Februar.
Er hat darin Hinweise zusammengetragen, die darauf hindeuten, dass der SED-Funktionär Günter Schabowski, auf dessen Äußerungen bei einer Pressekonferenz am 9. November 1989 die Maueröffnung zurückgeht, sehr wohl wusste, was er da verkündete – anders als es bis heute gedeutet wird, so unter anderem im Buch „Schabowskis Irrtum“ von Florian Huber.
Soukup erinnerte im Gespräch mit Sputnik daran, dass Schabowski eigentlich nicht verkündet hatte, dass die Mauer geöffnet wird, sondern nur großzügigere Reiseregelungen für DDR-Bürger ankündigte. Bei der Frage nach deren Gültigkeit sei das berühmte „sofort, unverzüglich!“ gekommen. „Diese beiden Worte hatten zur Folge, dass die Ostberliner nach und nach anfingen, die Mauer zu belagern.
Allerdings erst, nachdem sie in westlichen Medien darauf hingewiesen worden sind, was Schabowski da gesagt hat.“ Es seien ebenso sehr viele am nächsten Tag erst zu den zuständigen DDR-Behörden, den Volkspolizei-Kreisämtern (VPKA) gegangen, um Ausreisen und Besuchsreisen in den Westen zu beantragen. Das deute darauf hin, dass nicht alle sofort glaubten, die Mauer sei offen.
Spitzbübisches Grinsen
Für Soukup ist seit langem die „große Frage, hat Schabowski das aus Versehen gemacht, weil er nicht vorbereitet war und die Regelung vorher gar nicht gelesen hatte. Oder hat er in dem Augenblick gewusst, wenn er jetzt gefragt wird, ob das sofort gilt: Damit kann ich das ganze Grenzregime aushebeln.“ Für den Journalisten ergibt sich das stärkste Argument für Schabowskis Absicht aus dessen Antworten auf Fragen des US-TV-Journalisten Tom Brokaw kurz nach der Pressekonferenz.
In der FAS beschrieb er das so: Brokaw habe den SED-Funktionär gebeten, seinen entsprechenden Zettel nochmals vorzulesen. „Dann fragte er ihn: ‚Heißt das, die DDR-Bürger können jederzeit durch die Mauer nach drüben?‘ … Schabowski antwortete: ‚They are not further forced to leave GDR by transit through another Country.’ (‘Sie sind nicht mehr gezwungen, die DDR über Drittländer zu verlassen.’) Frage: Is it possible for them to go through the wall at some point?’ (‘Ist es ihnen möglich, an einer Stelle die Mauer zu passieren?’) Schabowski: ‘It is possible for them to go through the border.‘ (‚Es ist ihnen möglich, die Grenze zu passieren.‘)” Der SED-Mann habe dabei „spitzbübisch in die Kamera“ gegrinst. „Das heißt für mich, dass er in dem Moment schon davon ausging, dass es gar keine Mauer mehr gibt in Folge seiner Worte“, erklärte Soukup gegenüber Sputnik.
Schabowski habe zudem später immer darauf hingewiesen, dass er die Grenze eher geöffnet habe, „als es sich der rote Amtsschimmel ausgedacht hatte“. Auch in anderen Äußerungen des 2015 verstorbenen SED-Funktionärs habe dieser gesagt, er habe genau gewusst, was er getan hat. „Er wäre nicht so blöd, hat er an andere Stelle gesagt, dass er eine Ausreiseregelung verkündet, ohne zu wissen was er sagt“, so Soukup.
Wusste Schabowski „selber nicht so genau, was er da macht“?
Das sieht Peter Brinkmann anders. Er hatte als Reporter der Bild-Zeitung in der DDR bei der Pressekonferenz am 9. November 1989 Schabowski ebenfalls nach der Reiseregelung gefragt und was diese bedeutet. Im Buch „Zeuge vor Ort“ (Verlag edition ost) beschreibt er unter anderem, wie er das erlebte. Ihm sei der historische Moment klar, sagte Brinkmann gegenüber Sputnik, auch dass an dem Tag etwas Besonderes passiert, da bekannt war, dass am DDR-Reisegesetz gearbeitet wurde.
Schabowski habe später selbst immer wieder verschiedene Versionen von dem Ereignis wiedergegeben, so der Reporter.
„Um ehrlich zu sein, er wusste es wohl selber nicht so genau, was er da macht. Am Ende hat er gesagt: Wir haben ja gewollt, dass die DDR-Bürger ausreisen können, um wieder zu kommen. Es ging nicht darum, dass man die Leute nur rauslässt, sondern dass sie auch wiederkommen. Also brauchte man eine Regelung, die normal war im Verhältnis zwischen den Staaten.“
Das habe Schabowski gewollt. Die verkündete Reiseregelung sei so kompliziert gewesen, dass sie nicht gleich zu verstehen war.
Brinkmann erinnerte daran, dass Schabowski noch am 4. November 1989 auf der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz ausgepfiffen wurde.
„Er hat gemerkt: ‚Die Leute wollen das, was wir machen, nicht mehr.‘ Und er hat sich für mich völlig verständlich überlegt – wir haben ja sehr oft zusammengesessen –, es hatte doch keinen Sinn, den Leuten immer wieder zu sagen: ‚Du darfst reisen, aber Du musst erst sagen, warum, weshalb und wieso.‘“
Dass er an dem Abend des 9. November die überstürzte Formulierung absichtlich gewählt habe, sei deshalb unwahrscheinlich, „weil er gar nicht wusste, wie er auf die entsprechende Frage reagierte“, meinte Brinkmann. „Er ist ja damit überrollt worden. Eine Planung in diesem Sinne war es sicherlich nicht. Vom Bauchgefühl her hat er sich gesagt: Let’s go. Lasst sie gehen.“ Er habe „zigmal, hunderte Male“ darüber mit Schabowski bis zu seinem Tode gesprochen. „Es ist auch egal. Wir alle haben gemerkt, in dem Moment, wo ich die Frage stellte ‚Ab wann? Sofort?‘ und er darauf antwortet ‚Ab sofort und unverzüglich‘, kam ein Rad ins Rollen, das niemand mehr aufhalten konnte.“
Abgekartetes Spiel?
In seinem FAS-Beitrag verwies Soukup dagegen auf eine Analyse des Medienwissenschaftler Rüdiger Steinmetz, der die Mitschnitte der Pressekonferenz am 9. November 1989 auswertete. Dabei sei er 2003 zum dem Schluss gekommen, dass Schabowskis Antwort auf die Frage des italienischen Korrespondenten Riccardo Ehrmann nach den Reiseregelungen, die den Stein ins Rollen brachte, vorbereitet war.
„Dieser Moment war manipuliert“, erklärte Soukup gegenüber Sputnik, „der war vorher abgesprochen. Das war ein abgekartetes Spiel.“ Ehrmann, der für seine Frage das Bundesverdienstkreuz erhielt, habe 2009 zugegeben, dass er am Nachmittag des 9. November von einem hohen SED-Funktionär einen Hinweis bekam, am Abend unbedingt nach der Reiseregelung zu fragen. Schabowski war mit dem italienischen Journalisten befreundet, schrieb Soukup.
Im Interview ergänzte er: „Entweder hat Schabowski die Frage bei Ehrmann bestellt oder jemand anders und Schabowski hat dann davon gewusst. Da kommen so einige Fäden zusammen, wo man das Gefühl hat, das ist nicht so gelaufen, wie man es auf den ersten Blick sieht.“
Soukup machte im Interview auch darauf aufmerksam, dass der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, bereits im Oktober 1989 mit Schabowski im Ost-Berliner Palast-Hotel über ein mögliches Verkehrschaos nach einer Mauer-Öffnung sprach. Dabei sei es auch um zusätzliche Grenzübergänge für diesen Fall gegangen. „Der Mann, Schabowski, der diesen Versprecher oder Nicht-Versprecher gemacht hat, der die Mauer geöffnet hat, hatte schon etwa zehn Tage vorher mit Momper darüber gesprochen, wie sie das organisieren wollen, wenn es so weit ist“, betonte Soukup.
Haft-Befehl aus Moskau nicht ausgeführt
Er erinnerte in seinem Beitrag auch an die internationale Dimension der Mauer-Öffnung, die bis heute vernachlässigt wird: Schabowski habe mit den Worten „sofort, unverzüglich“ „eine internationale Kettenreaktion in Gang gesetzt, die schließlich zum Einsturz des gesamten Ostblock führte, inklusive der Sowjetunion“.
Dieser Schritt habe damals „erheblich“ in die Alliierten-Rechte in Berlin eingegriffen, die über dem deutschen Recht standen, und sei mit diesen nicht abgesprochen gewesen. So habe ein Anruf aus Moskau am 10. November 1989 bei Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit der DDR, auch gefordert, die Verantwortlichen zu verhaften, so Soukup. „Jeder, der Eins und Eins zusammen zählen konnte, wusste, dass das wahnsinnige Konsequenzen in alle möglichen Richtungen hat.“ Das Ereignis habe über Nacht alles in Frage gestellt, „was zwar schon bröckelte, aber noch Bestand hatte“.
Den Beteiligten sei damals nicht klar gewesen, das die geöffnete Mauer kurze Zeit später am 3. Oktober 1990 zur deutschen Einheit führt, sagte Augenzeuge Brinkmann. KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow habe noch im Januar 1990 erklärt, ohne sowjetische Zustimmung gebe es keine Einheit, denn: „Unsere Truppen stehen noch in der DDR.“ Doch das sei der erste grundlegende Beurteilungsfehler gewesen, weil Gorbatschow selbst keinen Befehl gab, die Mauer wieder zu schließen – „und auch nicht geben wollte“.
„Also waren die sowjetischen Truppen zahnlos und wirkungslos.“ Brinkmann erinnerte daran, in der Bundesrepublik hätten zwar alle an die Einheit gedacht, aber nicht darüber reden wollen. In Bonn sei befürchtet worden, dass sich Gorbatschow es doch noch anders überlegt. Noch am 10. November 1989 habe der damalige DDR-Partei- und Staatschef Egon Krenz Bundeskanzler Helmut Kohl wie auch Gorbatschow darauf hingewiesen, dass die geöffnete Mauer nicht bedeutet, dass die Grenze beseitigt ist. Klar sei aber gewesen, meinte der Augenzeuge: „Ohne Mauer hatte die DDR keine Existenzberechtigung.“
Quelle: Sputnik (Deutschland)