Aussterben ermöglichte Erfolg der frühen Landwirbeltiere
Archivmeldung vom 24.11.2015
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtSelektive Aussterbeereignisse, anstatt evolutionäre Neuerungen, sind möglicherweise die Schlüsselfaktoren welche die Dominanz von Wirbeltiergruppen an Land bestimmen, so die Ergebnisse einer neuen Studie von Wissenschaftlern des Museum für Naturkunde Berlin und der University of Lincoln, Großbritannien, die in Scientific Reports (Nature Publishing Group) veröffentlich wird.
Das Konzept der adaptiven Radiation ist von zentraler Bedeutung in der modernen Evolutionsbiologie. Eine adaptive Radiation ist eine sehr rasche Zunahme der Artenzahlen in einer Gruppe, oft als Folge einer evolutionären Schlüsselinnovation, die der Gruppe einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten gibt und es ermöglicht, neue Ressourcen zu nutzen., Wenn das Auftreten einer evolutionären Neuheit zeitlich mit einer großen Zunahme des Artenreichtums zusammen fällt wird oftmals davon ausgegangen, dass die Innovation für dieses Muster verantwortlich ist.
Die neue Studie untersuchte mögliche adaptive Radiation in frühen Landwirbeltieren, die vor 315 bis 200 Millionen Jahren gelebt haben. Dieser Zeitraum beinhaltet tiefgreifende Umweltveränderungen auf globaler Ebene, inklusive des dramatischen Abschmelzens der südpolaren Eiskappe nach der permo-karbonischen Vereisung, dem Verschwinden der äquatorialen Regenwälder, einem erheblichen Temperaturanstieg, lange Trockenperioden, sowie das größte Massenaussterbeereignis in der Erdgeschichte vor etwa 252 Millionen Jahren.
Die Wissenschaftler verwendeten statistischen Methoden, um festzustellen, welche der zu der Zeit lebenden Wirbeltiergruppen deutlich artenreicher waren als ihre nahen Verwandten, und versuchten die für dieses Diversitätsungleichgewicht verantwortlichen Faktoren zu identifizieren. Die Ergebnisse legen nahe dass in der Regel große Unterschiede in der Artenvielfalt zwischen zwei nah verwandten Gruppen nicht daraus resultieren, dass sich mehr Arten in der größeren Gruppe entwickeln, sondern mehr Arten in der kleineren Gruppe aussterben. Besonders erwähnenswert ist, dass auch das Auftreten einer Schlüsselinnovation in den erfolgreichen Gruppen keine höhere Artenzahlen hervorruft, bis ein neues großes Aussterben stattfindet.
Die Wissenschaftler verweisen auf das Beispiel der Dicynodontier innerhalb der Therapsiden, eine Gruppe von ausgestorbenen Pflanzenfressern die eng mit den Säugetieren verwandt sind. Vor etwa 270 Millionen Jahren entwickelten sie einen zahnlosen Schnabel und eine Vorwärts-Rückwärts-Bewegung des Unterkiefers, die zusammen eine klare funktionale Anpassungen an eine effiziente Aufbereitung von Pflanzennahrung darstellten. Allerdings haben Dicynodontier erst 10 Millionen Jahre später, während eines kleineren Aussterbeereignisses, ihre nahen Verwandten verdrängt und wurden daraufhin enorm artenreich. Ein ähnliches Evolutionsmuster ist in Langhals-Dinosauriern zu beobachten, die Gruppe mit den größten Landwirbeltieren aller Zeiten, wie beispielsweise dem weltberühmten Brachiosaurus am Museum für Naturkunde Berlin. Die größten Vertreter dieser Gruppe waren am Ende deutlich artenreicher als ihre nahen Verwandten, allerdings erst nach einem Massenaussterbeereignis am Ende der Trias, fast 30 Millionen Jahre nach ihrem ersten Erscheinen.
„Es scheint, dass diese ‚Schlüsselinnovationen’ keine massive Zunahme der Artenzahlen hervorrufen, sondern eher als Puffer gegen Aussterben und in harten Zeiten fungiert", sagte Erstautor Dr. Neil Brocklehurst, Postdoc am Museum für Naturkunde Berlin. Co-Autor Jörg Fröbisch, Professor für Paläobiologie und Evolution am Museum für Naturkunde und der Humboldt-Universität zu Berlin, ergänzte: "Besonders überraschend ist, dass diese frühen Landwirbeltiere zum tatsächlichen Zeitpunkt der Evolution einer neuartigen Struktur oder Funktion keinen dramatischen Anstieg der Artenzahlen erlebten. Stattdessen trat in der Regel eine adaptive Radiation erst sehr viel später in der Evolutionsgeschichte dieser Gruppen auf, während einer der vielen Aussterbeereignisse oder zu Zeiten von klimatischem Stress.“ Johannes Müller, Professor für Paläozoologie am Museum für Naturkunde und der Humboldt-Universität zu Berlin, sagte: "Wir haben wirklich keines dieser Muster erwartet. Unsere Ergebnisse stehen im Gegensatz zu traditionellen Annahmen in der Evolutionsbiologie und zeigen dass die wissenschaftlichen Ansichten über die Relevanz von Schlüsselinnovationen sorgfältig überdacht werden sollten." Dr. Marcello Ruta, von der University of Lincoln, folgerte: „Mit der Analyse von großen evolutionären Stammbäumen verschiedener Gruppen von Organismen ist es möglich, wichtigen Fragen in der Evolutionsbiologie anzugehen, die sich schon Charles Darwin und viele Generationen von Biologen nach ihm stellten: Wie wurde das Leben auf der Erde so vielfältig? Wie werden Diversifikationsereignisse ausgelöst? Wie reagieren Tiere und Pflanzen auf globale Katastrophen? Im kommenden Jahrzehnt erwarten wir viele spannende Entwicklungen in diesen Bereichen."
Quelle: Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (idw)