Biograf Prof. Heinz Schilling: Luther nicht der Kirche überlassen
Archivmeldung vom 20.04.2013
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.04.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEr erschütterte die Kirche stärker als jeder andere und schrieb Weltgeschichte: Der Augustinermönch Martin Luther begründete den Protestantismus. Luther-Biograf Prof. Heinz Schilling warnt davor, den Reformator lediglich dazu zu benutzen, die heutigen eigenen Positionen zu legitimieren. 2017 feiert die evangelische Kirche 500 Jahre Thesenanschlag. Schilling mahnt zu einem historisch fundierten Erinnern, zeigt auf, wo Luther uns heute fremd ist und räumt mit Mythen auf.
Gedenken wir im Lutherjahr 2017 der historischen Person oder feiern wir lediglich das Abziehbild des Zeitgeistes?
Prof. Heinz Schilling: Das ist ein Problem, das ich auch in meiner Luther-Biographie aufwerfe. Fragt man: Was geht uns heute noch Luther an?, reicht es nicht, wie in der EKD allzu oft üblich, lediglich das zu würdigen, was einem heute noch passt. Das ist eine zu oberflächliche Auseinandersetzung, die Luther nicht gerecht wird und Chancen verspielt, die die 500-Jahr-Feier des Thesenanschlags eröffnet. Es wäre angezeigt, sich nicht nur mit Luther auseinanderzusetzen, sondern auch mit 500 Jahren Rezeptionsgeschichte: Diese ist durch einen Wust an Mythen geprägt, der sich mittlerweile um den Reformator rankt. Durch unheilige Allianzen zwischen Luthertum und Staat, Altar und Thron. Eine adäquate Auseinandersetzung mit Luther verlangt zwingend die historische Auseinandersetzung mit den Fakten und Luthers Zeit. Nur, wenn man analysiert, was man von Luthers Worten und Taten akzeptieren kann und was nicht, gewinnt man einen Spiegel aus der Historie, mit dem man die eigene Zeit reflektiert. So, wie man derzeit ohne historische Tiefe Luther feiert, will man nur die eigenen, heutigen Positionen bestätigen.
Ist die EKD daran interessiert, einen derartigen Spiegel aus der Historie zu formen?
Prof. Schilling: Na ja, die EKD ist bisweilen ein riesiges, schwerfälliges Schlachtschiff. Sie hat sich jetzt die Luther-Botschafterin Margot Käßmann als Kapitänin auf die Brücke geholt. Sie ist zwar in einer ungeheuren Weise begabt, was die Performance der Jetztzeit anbelangt. Was ihre Fähigkeiten zu einem geschichts-theologischen Tiefenbohren angeht, bin ich eher skeptisch. Insgesamt ist Luther viel zu bedeutend, als dass man ihn der EKD überlassen könnte. Ich bin zwar lutherischer Christ, aber als Allgemeinhistoriker muss ich darauf bestehen, dass Luther und die Reformation eine Welt-Wirkung gehabt haben - und beileibe nicht nur im kirchlichen Bereich. Luther muss so gewürdigt und dargestellt werden, dass auch dem Reformator eher fern stehende Menschen wie etwa Gregor Gysi verstehen, wie zentral ihre Identität mitgeprägt wurde durch die Geschehnisse von 1517 und der folgenden Jahre. Weil Luthers Wirkung weit über den rein kirchlichen Bereich hinausging, steht auch der Staat in der Pflicht, das anstehende Jubiläum angemessen zu begleiten. Es reicht nicht aus, den Tourismus in die mitteldeutschen Bundesländer mit Luther-Socken und Luther-Bier zu fördern. Selbstverständlich hat die Evangelische Kirche das Recht, Luther zu feiern. Doch zugleich sind alle anderen aufgerufen, Luthers Wirken kritisch zu würdigen. Noch immer finden sich aktuelle Bezüge zur Reformationsgeschichte. So analysierte jüngst ein Leitartikel, dass die Grenze zwischen den funktionierenden, modernen Ländern Nordeuropas und den laschen, rückständigen Ländern Südeuropas dort verläuft, wo die Reformation sich nicht mehr durchsetzen konnte. Hier werden in der Euro-Krise neue Mythen aufgebaut. Das lässt einem Historiker die Haare zu Berge stehen.
Nicht nur Kreuzworträtsellöser denken bei Luthers Namen an die 95 Thesen, die er an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt haben soll. Wo vernebeln Legenden die Wahrheit?
Prof. Schilling: Als revolutionärer Akt wurde der Thesenanschlag erstmals 1617 dargestellt, am Vorabend des großen Religionskrieges, als man Luther zum Antipoden der vordringenden Gegenreformation aufbaute. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das Ereignis dann geradezu zum protestantischen Gründungsakt und Identitäts-Mythos hochstilisiert. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es dann eine quellenkritisch begründete Kehrtwende, die den Thesenanschlag als historisches Ereignis in Frage stellte, ausgehend von der Tatsache, dass ein solches Ereignis erst nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, lange nach Luthers Tod, Erwähnung findet. Inzwischen ergibt sich aus neuen Quellenfunden, dass ein Anschlag möglich, wenn nicht wahrscheinlich war. Allerdings nicht in der über Jahrhunderte überlieferten Form des hammerschwingenden Mönchs, der seine Thesen annagelt. Sicher ist, dass Luther die Briefe an seine Kirchenoberen verschickte, die nicht reagierten. Die Thesen sind dann ohne seine Zutun gedruckt worden. Wenn etwas angeschlagen wurde, dann waren das seine Disputationsthesen - also eine inneruniversitäre Aufforderung zum Disput. Dann wird es auch der Pedell gewesen sein - also der Hausmeister -, der zum Hammer griff. Die bronzene Thesentür in der Wittenberger Schlosskirche, zu der US-Touristen pilgern, ist ein Produkt des Preußenmythos im 19. Jahrhundert. Ebenso der Turm der Kirche - "eine feste Burg" -, der dazu diente, die Einheit von "Thron und Altar" zu symbolisieren. Etwas, was Luther nie wollte. Oft wird Luther vorgeworfen, die Kirche den Politikern ausgeliefert zu haben. Das ist völlig falsch. Luther hielt immer Distanz, auch zu seinen eigenen Fürsten, obwohl er wusste, dass nur sie ihm helfen konnten.
War der berühmte Ausruf "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen." nur das Produkt der PR-Abteilung des Augustinermönches?
Prof. Schilling: Dem Sinne nach hat Luther das zwar gesagt, doch die Zuspitzung ist in der Tat eher die Leistung seiner äußerst fähigen Mitarbeiter in Wittenberg. Verloren gegangen ist über die Mythologisierung auch die Position von Karl V. Der Kaiser konnte auch eine Haltung des "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders" für sich geltend machen. Nur seine "PR-Abteilung" war nicht so effektiv.
War Luther dann zumindest der große Vereinheitlicher der deutschen Sprache mit seiner Bibel-Übersetzung?
Prof. Schilling: Luther hatte ein überragendes, beneidenswertes Sprachtalent. Aber auch er stand auf den Schultern von Riesen. Übersetzungen der Bibel hatte es vor ihm gegeben, Sprachangleichungen hatte es vorher gegeben. Die Kanzleien des mitteldeutschen Raumes waren schon sehr prägend gewesen. Doch dann setzten zeitgleich Luther mit seinem ungeheuren Sprachtalent und die Publizistik ein. Zum ersten Mal erreichte eine Botschaft alle Menschen. Die, die nicht lesen konnten, bekamen vorgelesen. Und Luther setzte die im Entstehen begriffene mittelhochdeutsche Sprache so effektiv ein, dass sein Wirken bis heute nachhallt. Er kanalisierte also eher den Überfluss und die Unübersichtlichkeit deutscher Bibeltexte.
Sah sich Luther als Reformator oder als Prophet?
Prof. Schilling: Er wollte die gesamte Kirche reformieren, aber er wollte kein Kirchenneugründer werden. Reformieren heißt in diesem Fall, die Kirche zurückzuführen auf die Grundlagen des Evangeliums. Insofern ist der Name der evangelischen Kirche gut gewählt. Am Rande sei erwähnt, dass auch der gerade zurückgetretene Papst vehement die Evangelien in den Vordergrund gestellt hat. Tragischerweise, ohne zu erkennen, wie sehr dies auch Luthers Ansinnen war. Als es Luther misslang, die Kirche auf ihre evangelische Urgestalt zurückzuführen, verzagte er aber nicht, sondern kämpfte weiter gegen alle Widrigkeiten. Dass er dies durchhalten konnte, hängt damit zusammen, dass er sich als Prophet Gottes sah, als derjenige, der von Gott auserwählt war, die reine Lehre wieder in die Welt zu bringen.
Bezahlte das Deutsche Reich die Kirchenspaltung mit dem Verlust des Kaiserstaates und dem Zerfall in Kleinstfürstentümer?
Prof. Schilling: Zunächst muss man festhalten: Kirche, Politik, Gesellschaft und Staat waren zu Luthers Zeit in einer Einheit verschränkt, wie wir uns das nach der Aufklärung - nach der Trennung von Staat und Kirche - nur schwer vorstellen können. Deshalb haben wir es mit einem Syndrom zu tun. Reformation war ebenso ein politischer, ein wirtschaftlicher und ein kultureller Aufbruch. Die Kirche trat in die Welt hinaus, aber es waren nicht nur Luther und die Reformation, die Dynamik erzeugten. So war die Modifikation des Kaiserreichs durch den Aufstieg der Fürsten längst im Gange. Es war geradezu ein Charakteristikum des frühmodernen Staates - vor allem in Sachsen -, sich Freiräume gegenüber dem Kaiser zu erkämpfen. Mit Luther allerdings bekamen die Fürstentümer eine weitere sakrale Legitimität. Und das hat den Föderalismus in Deutschland sehr gestärkt.
Taugt Luther als Referenzautorität für heutige Positionen der evangelischen Kirche, etwa zur Toleranz?
Prof. Schilling: Nein. Aber es lohnt, sich mit Luthers Unfähigkeit zur Toleranz auseinanderzusetzen. Denn so wie heute einige Muslime Probleme mit der Toleranz haben, so hatte dies Luther in seiner Zeit. Wenn wir uns also auf Luther besinnen, verlieren wir etwas von unserer Arroganz: Wir sind ja so tolerant! Und das wäre notwendig. Es geht aber nicht, unser heutiges Toleranzverständnis direkt aus der Lutherschen Haltung zu entwickeln.
Aufrechter Rebell, deutscher Nationalist, Antisemit: Schafft sich jede Epoche ihren eigenen Luther?
Prof. Schilling: Genau das ist das Problem. So haben die "Deutschen Christen" im Dritten Reich Luther missbraucht und qualitativ umgedeutet. Luther war nie von einem ethnischen Antisemitismus geprägt gewesen. Auch Luthers Haltung zu den Juden war ganz und gar religiös bestimmt: Konvertierten Juden, waren sie für ihn gleichrangige Brüder und Schwestern. Aber hier kann man die dunkle Seite seines Sprachtalentes erkennen. Wie Luther gegen die Juden gewettert hat, wirkte deswegen fort. Vielleicht sogar bis ins Bewusstsein vieler Christen im Dritten Reich, die es unter Bezug auf Luther nicht für notwendig befunden haben, sich vor die bedrohten Juden zu stellen.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)