"Die Welle"-Lehrer Ron Jones über sein Experiment, Guantanamo und Barack Obama
Archivmeldung vom 14.03.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs war der amerikanische Lehrer Ron Jones, der 1967 im kalifornischen Palo Alto an einer High School die Erfahrungen machte, die dem Film zugrunde liegen. Später verfasste Jones, der heute als Autor und Punk-Musiker sein Geld verdient, ein längeres Essay zum Thema.
ProSieben Online sprach mit Jones über die Gemeinsamkeiten zwischen Realität und Fiktion, über seine eigene Rolle im Experiment und darüber, warum „Die Welle“ ein Geschenk gerade auch für Amerika ist.
Mr. Jones, was bedeutet es für Sie, einen wichtigen Part Ihres Lebens nun als Kino-Film erleben zu können?
Das ist eine sehr große Ehre und es ist natürlich auch sehr befriedigend festzustellen, dass man im Leben etwas getan hat, das eine größere Bedeutung hat. Es bedeutet aber natürlich auch, dass man weiterhin Verantwortung übernimmt und sich für die richtige Sache engagiert.
War Ihnen schon damals, vor vierzig Jahren, bewusst, dass Ihr Experiment etwas ganz Besonderes sein würde?
Nein. Amerika war damals im Vietnamkrieg, wir hatten die Rassenunruhen. Diese Dinge standen damals viel mehr im Fokus, als dieses einwöchige Experiment mit einer Schulklasse.
Inwieweit waren Sie in die Produktion des Films involviert?
Ich habe die ursprüngliche Kurzgeschichte geschrieben, die später auch die Grundlage für ein Fernsehspiel lieferte. Zudem hatte ich häufigen E-Mail-Kontakt zu den Machern von „Die Welle“. Um ehrlich zu sein, muss man aber sagen, dass dieser Film ganz allein deren Ding ist, auf das Dennis (Gansel, Regisseur; d. Red.), Christian (Becker, Produzent; d. Red.) und Peter (Thorwarth, Drehbuch-Autor; d. Red.) sehr stolz sein können. Es ist Ihnen gelungen, meine Geschichte aus dem Blickwinkel der Schüler zu erzählen.
Hält der Film den Ereignissen von vor 40 Jahren stand?
Es ging damals und es geht heute darum, was Jugendliche beschäftigt. Natürlich ist der gesellschaftliche Kontext heute mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten ein ganz anderer. Heute geht es mehr denn je um die enorme Schnelligkeit in unser aller Leben, und um die Einsamkeit, die diese Schnelligkeit oft mit sich bringt.
Wenn Sie sich an die damaligen Ereignisse erinnern, was war der größere Schock: die Verführbarkeit der Jugendlichen oder der Fakt, dass auch Sie selbst dem Machtgefühl erlegen sind?
Der größere Schock war für mich fraglos, dass ich dieses Machtgefühl und diese Art der Anerkennung sehr genossen habe.
Wie haben Ihre Frau und Ihre Freunde auf Ihre Verwandlung reagiert?
Ich hatte Glück, dass ich meine Frau und meine Freunde hatte, die mir aufgezeigt haben, was mit mir los war. Ich brauchte einfach Menschen, die mir klar machten „Stopp, keinen Schritt weiter!“
Woran merkten Sie noch, dass Sie zu weit gegangen waren?
Zum einen konnte ich beobachten, dass das Gewaltpotenzial ständig zunahm. Zum anderen war es der Moment, als mir ein Schüler ins Lehrerzimmer folgte mit der Begründung, er wolle von nun an mein Leibwächter sein. Mir wurde klar, dass dieser Schüler bereits eine unsichtbare Linie überschritten hatte. Und ich selbst war im Begriff, diese Linie auch zu überschreiten.
Glauben Sie, dass „Die Welle“ mehr sein kann, als ein fraglos ambitionierter Kinofilm, und jungen Menschen tatsächlich die Mechanismen von Diktaturen aufzeigen kann?
Ich denke, dass „Die Welle“ ein sehr mutiger Film ist. In Amerika untersuchen wir diese Mechanismen nicht. Und wir sprechen auch nicht über unsere Schuld, wir sprechen nicht über die Bombardements von Dresden und Hiroshima.
Die Deutschen dagegen wollen unbedingt verstehen, wie es zum Faschismus kommen konnte und welche Gefahren auch heute noch lauern. Faschismus kann überall auftauchen, in der Familie, in der Kirche, am Arbeitsplatz. „Die Welle“ erlaubt es uns nun, uns selbst zu betrachten. Und deshalb ist dieser Film ein Geschenk, gerade auch für uns Amerikaner.
Faschismus in Amerika ist eine Sache verbrecherischer Organisationen, etwa des Ku-Klux-Klans...
Ich sorge mich nicht wegen des Ku-Klux-Klans. Ich sorge mich, weil unsere Regierung Folter duldet, wie in Guantanamo Bay. Ich sorge mich, weil wir einen ungerechten Krieg führen. Und unsere Kultur scheint all das immer mehr auch zu akzeptieren.
Wird die bevorstehende Präsidentschaftswahl etwas ändern können?
Ich habe Hoffnung, wenn ich an Barack Obama denke. Er wäre ein Mann ohne Altlasten, der Brücken schlagen könnte. Allerdings dürfen wir die Lösungen auch nicht von einem einzigen Heilsbringer erwarten. Jeder Einzelne muss in seinem kleinen Umfeld aktiv werden. Nur so kann es funktionieren.
(Das Interview führte Andreas Kötter)
Quelle: ProSieben