Mit Computertomographie dem Minnesang auf der Spur
Archivmeldung vom 04.07.2009
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Freigeschaltet durch HBAus dem wenig alltäglichen Arbeitsalltag eines Instrumentenbauers - Die unscheinbare, alte Holzkiste fährt langsam in die hochmoderne Röhre eines Computertomographen. Auf einem Bildschirm werden kunstvoll angeordnete Nägel, eine eiserne Kurbel und schließlich ein Resonanzkörper erkennbar.
Im Medizintechnischen Institut der Universität Erlangen (IMP) wird heute ein ganz besonderer „Patient“ untersucht, eine mittelalterliche Drehleier, oder was davon noch übrig ist. Das einstmals prächtige Saiteninstrument hat sichtlich unter jahrhundertelanger, unsachgemäßer Lagerung gelitten, ist in seinem geschundenen Zustand kaum noch als solches zu erkennen. Nun liegt es auf dem medizinischen Behandlungstisch des 21. Jahrhunderts. Was für den Laien wie ein bizarres Szenario anmutet, ist für den Bamberger Instrumentenbauer Andreas Spindler die größte Sensation und der Höhepunkt seiner bisherigen Karriere.
Vor einem Jahr hatte der 43-jährige Musik-Experte den Auftrag vom Kulturhistorischen Museum in Magdeburg erhalten, historische Instrumente für die bevorstehende Landesausstellung „Aufbruch in die Gotik“ zu recherchieren und anschließend nachzubauen. Unzählige Stunden hatte er in Archiven verbracht, mit Fachleuten telefoniert und Sammlungen besichtigt, ehe der entscheidende Tipp kam: Ein Ehepaar aus Goslar besitze die älteste Leier der Welt. Die Sammler hätten sie zwei Handwerkern abgekauft, die sie ihrerseits beim Abbruch eines gotischen Hauses entdeckten. Vor Ort konnte sich der Instrumentenbauer dann selbst davon überzeugen, dass dieses musikalische „Fossil“ tatsächlich existiert, das unsere heutige Welt mit der höfischen Kultur des Minnesangs verbindet.
„Zwischen Vierzehn- und Sechzehnhundert muss dieses Instrument entstanden sein“, schätzt Andreas Spindler das Alter und während er das sagt, scheint er selbst in diese Blütezeit der höfischen Kultur zu entschwinden, als fahrende Sänger von Hof zu Hof zogen, Könige und Fürsten mit immer neuen Lobliedern auf die Schönheit der Damenwelt erfreuten oder am Rande von Ritterturnieren für Kurzweil sorgten. „Die Minnesänger waren nicht nur Poeten und Virtuosen, oft bauten sie sich auch ihre Instrumente selbst“, berichtet Spindler. „Damals gab es keine Massenanfertigung. Jedes Instrument wurde speziell auf die Bedürfnisse des Musikers zugeschnitten. Es handelte sich um individuelle Maßarbeit, die Fingerabstände des Musikers wurden ebenso berücksichtigt wie dessen klangliche Vorlieben. Ein halber Millimeter macht hier viel aus und entscheidet über das Wohl oder Wehe eines Klanges“.
Dieses Credo gilt auch für Andreas Spindlers eigene Werkstatt. Seit mehr als zwanzig Jahren ist der ehemalige Schüler der Baseler Scuola in Bamberg als selbständiger Instrumentenbauer tätig, hat in dieser Zeit gut neunhundert Instrumente erschaffen. Und wie seine mittelalterlichen Vorbilder Walther von der Vogelweide oder Otto von Botenlauben, ist auch er ein exzellenter Musiker. „Gemeinsam mit meinem Vater und meinen Geschwistern haben wir früher Barockmusik gemacht. Aber irgendwann packte uns das Verlangen, die musikalische Sprache des Mittelalters zu lernen. Wir gründeten die Capella Antiqua Bambergensis“. Mit diesem Ensemble, in dem er gemeinsam mit seiner Frau Anke spielt, ist Andreas Spindler inzwischen weit über vierhundert Mal aufgetreten und hat für die 700 Jahre alte Musik weltweit viele neue Freunde gewonnen.
Dementsprechend international ist auch sein Kundenkreis. Bestellungen kommen heute aus ganz Europa, aus USA und Japan. Profimusiker und Laien stimmen sich mit Andreas Spindler über die Bauweise, das Material und den Herstellungsprozess der gewünschten Instrumente ab -immer exakt an der mittelalterlichen Arbeitstechnik ausgerichtet. So wie bei der Flöte aus einem Adlerknochen, die er vor dem Schnitzen zunächst einige Wochen in einen Ameisenhaufen steckte, um sie zu desinfizieren. Oder dem Zink, einem mittelalterlichen Blasinstrument, das er so bauen musste, dass es wie eine Mischung aus Trompete und Saxophon klingt. „Die Quellen sprechen hier eine eindeutige Sprache“, sagt Andreas Spindler augenzwinkernd: „Der Zink muss einfach klingen wie ein Sonnenaufgang in Italien …“.
Die Hälfte aller Instrumente baut er nur nach Abbildungen. „Die meisten mittelalterlichen Originale sind inzwischen verloren. Instrumente sind und waren Gebrauchsgegenstände und nutzten deshalb auch ab. Aber auf Abbildungen in mittelalterlichen Handschriften sind historische Instrumente oft so detailreich dargestellt, dass man sie gut rekonstruieren kann. Da stimmt sogar die Handhaltung der gemalten Musiker“, erklärt der Instrumentenbauer.
Sensationsfunde wie die historische Drehleier aus Goslar blieben die seltene Ausnahme. Mit der Computertomographie kann Andreas Spindler diesem Arbeitsgerät eines Minnesängers seine letzten Geheimnisse entlocken. Auf dem Bildschirm zeichnet sich die außergewöhnliche Bauweise des Instruments für den Kenner ab: „Im Unterschied zu späteren Drehleiern ist die eiserne Drehkurbel nur an den Enden gerundet und sie ist nicht etwa am Korpus befestigt, sondern frei schwebend an der Oberseite des Instruments. Besonders außergewöhnlich ist der Umstand, dass dieses Instrument ausschließlich genagelt ist, und zu seiner Fertigung kein Tropfen Knochenleim verwendet wurde. Wenn die dicken Saiten aus Schafsdarm in Schwingung versetzt wurden, muss ein besonders sonorer, warmer Klang erzeugt worden sein“, schwärmt der Experte.
Noch lässt sich nur mutmaßen, wie großartig das Instrument tatsächlich geklungen haben mag. Aber Andreas Spindler wird auch dieses originalgetreu nachbauen. Dann kann es die Welt hören und ein verloren geglaubtes Stück Musikgeschichte aus dem Mittelalter wird zurückerobert.
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Quelle: CAB Artis Kulturmanagement