New Orleans und Haiti - Wie Vodou die Wunden heilt, die Naturkatastrophen schlugen
Archivmeldung vom 03.04.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn die Leipziger Ethnologin Maria Elisabeth Thiele Nachrichten von Wirbelstürmen, Flutwellen oder Erdbeben hört, dann ist sie nicht nur betroffen wie andere Menschen auch. Für sie haben solche erschütternden Ereignisse nicht selten auch wissenschaftliche Aspekte. Sie forscht zum religiösen Umgang mit Naturereignissen.Ihr wissenschaftlicher Mentor ist Prof. Dr. Bernhard Streck, Direktor des Institutes für Ethnologie der Universität Leipzig.
Die Spezialstrecke der Mitarbeiterin des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig sind die afroamerikanischen Kulturen, speziell die Vodou-Religion auf dem amerikanischen Doppelkontinent. "Deshalb hat es mich besonders interessiert, wie die Menschen von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im August 2005 diese verheerende Naturkatastrophe verarbeitet haben. Man hört nach solchen Ereignissen immer viel von (zum Teil nicht erfolgten) Rettungsaktionen, vom Wiederaufbau der Infrastruktur, von wirtschaftlicher Hilfe oder auch von technischen Prognosemöglichkeiten. Aber kaum einer spricht darüber, wie die Opfer selbst das Unfassbare doch irgendwie fassen konnten."
Deshalb freute sich die junge Forscherin besonders über einen Preis des britischen Leverhulme Trust, der es ihr ermöglichte 2008 selbst nach New Orleans zu gehe. Sie suchte sich eine Unterkunft in einem der ältesten Schwarzen-Viertel der USA, lebte mit denen, die nach Katrina in der Stadt geblieben waren, erlebte deren noch immer andauernde Erstarrung. Bis ein neuer Wirbelsturm - Gustav - in Anmarsch war. Wie ihre Nachbarn musste auch die Ethnologin eilig ihre Sachen packen, wurde evakuiert, hockte im Notquartier. "Aber bei aller Dramatik - ich genoss so etwas wie die Gunst der Stunde. Die Menschen an meiner Seite waren aufgewühlt, die Blockade, die sie drei Jahre schweigen ließ, brach. Die Panik, die Angst, die Erinnerungen von damals kamen wieder an die Oberfläche. Und all die Fragen, die ich hatte, mit denen ich aber vorher niemanden bedrängen wollte, musste ich nicht mehr stellen. Alle redeten."
Während dieser dramatischen Tage von New Orleans, fanden sich die Antworten auf die Fragen, die Maria Elisabeth Thiele für ihr Forschungsprojekt schon im Auge hatte: Welche Rolle spielen Weissagungen und Schutzrituale? Wie sehen Rituale zur Traumabewältigung aus? Wie reflektierte die spirituelle Kunst Naturkatastrophen? Und: Wie wird ein Naturereignis überhaupt erst zur Naturkatastrophe? "Diese letzte Frage war mir besonders wichtig. Denn eine Flut oder ein Sturm ist ja nicht von vornherein katastrophal, sondern erst, wenn Menschen traumatisiert, psychisch und physisch verletzt werden und mit extremen Verlusten konfrontiert sind. Und in der Regel sind dabei die sozial Schwachen besonders verwundbar. Der Grad der Benachteiligung durch Klasse, Ethnizität, Geschlecht oder Alter bestimmt das Ausmaß der Katastrophe."
Vor Ort fand die Forscherin beispielsweise die Gelegenheit mit einem "root doctor" zu sprechen, der ganz nach der magischen Tradition behandelte, Amulette und Zaubertränke anwandt, Einreibungen verteilte, die gegen Naturgewalten schützen sollten. "Aber dieser Mann war nicht ein "Voodoo-Zauberer" wie aus Hollywood-Streifen. Sein Tun brachte den Menschen Vertrauen, Rückhalt und Mut."
Nun beschäftigt sich die Leipziger Ethnologin natürlich mit dem erdbebenzerstörten Haiti, das aus religiöser Sicht der afroamerikanischen Kultur von New Orleans ähnelt. Beide Regionen wurden geprägt von den Religionen, die die aus ihrer afrikanischen Heimat in die Plantagen verschleppten Sklaven mitbrachten. "Ich würde gern vergleichen, welche Rolle der Vodou-Glaube in Haiti und bei den Afroamerikanern von New Orleans angesichts von Naturkatastrophen spielt. Darüber hinaus interessieren mich die Hilfsaktionen, die von New Orleanser Vodou-Anhängern für Haiti unternommen werden, denn da gibt es viele Verbindungen. Erstens leben zahlreiche Haitianer in New Orleans, zweitens wurden US-amerikanische Vodou-Priester/innen meist in Haiti initiiert und unterhalten dadurch fortdauernde Bündnisse mit haitianischen Tempeln."
Die Bedeutung solcher Forschungen liegt allerdings nicht nur darin, dass bisher ungestellte Fragen endlich eine Rolle spielen und beantwortet werden. "Meines Erachtens müssen wir uns wissenschaftlich mit Fragen wie Vorhersagungen und dem rituellen Umgang mit Naturkatastrophen beschäftigen. Indigene, traditionelle kulturelle Techniken zur Prävention und Bewältigung könnten oft erheblich zur Begrenzung der Katastrophe beitragen und sollten nicht ignoriert werden."
Auch für den Umgang der Religionen miteinander sei, so Maria Elisabeth Thiele, mehr Wissen übereinander und mehr Respekt voreinander nötig. "Es ist doch unglaublich, dass noch im 21. Jahrhundert ein so dramatisches Ereignis wie das Erdbeben von Haiti von einigen evangelikalen Stimmen als die endlich eingetroffene Gottesstrafe für den 'Pakt mit dem Teufel' interpretiert wird, den die Haitianer eingegangen seien, als sie - ermutigt von ihren Vodou-Göttern - gegen die französischen Kolonialherren aufstanden." Auch dass in diesen Wochen die Hilfsorganisationen nicht selten auf Seelenfang gehen und die einheimischen Religionen bei dieser Gelegenheit zurückdrängen, dürfe nicht aus den Augen verloren werden. "Da viele Betroffene ihre Papiere beim Erdbeben verloren, nehmen sie jetzt das Angebot an, sich christlich taufen zu lassen. Der Taufschein gilt als Identitätsnachweis, der dringend benötigt wird, und viele Menschen haben Angst, ohne den 'rechten Glauben' von den Hilfeleistungen ausgeschlossen zu werden."
Wenn die Menschen von Haiti den ganz großen Schreck verarbeitet haben, will Maria Elisabeth Thiele - sofern sie die Finanzierung regeln kann - nach Haiti und auch wieder nach New Orleans reisen und ihre Arbeit komplettieren.
Quelle: Universität Leipzig