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TU Wien: Ultra-kalte Atomwolken bringen bestehende Theorien ins Wanken

Archivmeldung vom 08.05.2018

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.05.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Der Atomchip an der TU Wien
Der Atomchip an der TU Wien

Bild: Technische Universität Wien

Experimente mit ultra-kalten Atomen brachten an der TU Wien unerwartete Ergebnisse: Atomwolken, die miteinander gekoppelt sind, synchronisieren ihre Schwingung in Millisekunden – mit bestehenden Theorien ist das nicht erklärbar.

Marine Pigneur und Jörg Schmiedmayer
Marine Pigneur und Jörg Schmiedmayer

Bild: Technische Universität Wien

Wenn Atome fast auf den absoluten Nullpunkt abgekühlt werden, ändern sie ihr Verhalten deutlich. Sie können zu einem Bose-Einstein-Kondensat werden, ein ultra-kalter Materiezustand, in dem die Teilchen ihre Individualität verlieren und nur noch kollektiv beschrieben werden können, als ein einziges großes Quantenobjekt.

An der TU Wien werden Wolken aus ultra-kalten Atomen seit Jahren untersucht. Sie sind ein perfektes Modellsystem um fundamentale Fragen der Vielteilchen-Quantenphysik zu studieren. Nun ist das Forschungsteam rund um Prof. Jörg Schmiedmayer (Atominstitut) auf bemerkenswerte Resultate gestoßen, die von keiner der bisher etablierten Theorien erklärt werden können. Wenn zwei ultra-kalte Quantengase miteinander gekoppelt werden, können sie sich spontan synchronisieren, sodass sich ihre Schwingungen nach wenigen Millisekunden perfekt aneinander angleichen. Das bedeutet, dass das bisherige Lehrbuchwissen über Bose-Einstein-Kondensate hinterfragt werden muss. Die Ergebnisse wurden nun im Fachjournal „Physical Review Letters“ veröffentlicht.

Atome in der Falle

„Wir verwenden einen speziell designten Atom-Chip um die Atome zu kühlen und ihre Eigenschaften zu manipulieren“, sagt Jörg Schmiedmayer. „Der Chip kann hunderte oder tausende Atome an einem bestimmten Ort festhalten und ihre kollektiven Eigenschaften mit magnetischen Feldern manipulieren.“

Zunächst wird eine Atomwolke auf eine Temperatur von wenigen Nanokelvin heruntergekühlt. „Dann erzeugen wir mit Hilfe des Atomchips eine Barriere, die unsere Atomwolke in zwei Teile teilt“, sagt Marine Pigneur, die Erstautorin des Papers, die in Schmiedmayers Team an ihrer Dissertation arbeitet. „Wenn diese Barriere nicht zu hoch ist, dann können Atome immer noch von einer Seite zur anderen wechseln, mit Hilfe des quantenphysikalischen Tunneleffekts. Daher sind die beiden Atomwolken nicht völlig unabhängig voneinander, sie sind miteinander gekoppelt.“

Nach den Gesetzen der Quantenphysik kann jedes Objekt als eine Welle beschrieben werden. Für uns sind die Welleneigenschaften im Alltag nicht sichtbar, weil wir es normalerweise mit Objekten zu tun haben, die dafür viel zu groß und viel zu warm sind. Das Verhalten kalter Atome wird von diesen Welleneigenschaften allerdings stark beeinflusst.

Eine dieser Eigenschaften ist die sogenannte Phase, die sich verstehen lässt, indem man die Quantenwelle mit einer tickenden Uhr vergleicht: „Stellen wir uns zwei identische Pendeluhren vor“, sagt Jörg Schmiedmayer. „Sie können perfekt synchronisiert sein, sodass ihre Pendel beide exakt im gleichen Augenblick ihren tiefsten Punkt erreichen. Aber typischerweise wird ihre Bewegung ein bisschen aus dem Takt sein. In diesem Fall spricht man von einer Phasendifferenz zwischen den beiden Pendeln.“

Wenn die beiden Atomwolken erzeugt werden, starten sie im gleichen Takt – ihre Schwingungen sind völlig synchron, es gibt keine Phasendifferenz zwischen ihnen. Doch mit dem Atomchip können sie de-synchronisiert werden. Die Quanten-Phasendifferenz zwischen ihnen (die angibt, wie stark sie aus dem Takt geraten sind) kann mit hoher Präzision kontrolliert werden. Danach werden die beiden Atomwolken genau untersucht, um zu sehen, wie sich diese Phasendifferenz mit der Zeit ändert.

Wenn zwei klassische Pendel mit einem Gummiband gekoppelt werden, dann kann das Band etwas Energie aufnehmen, die dem System verloren geht, und die beiden Pendel schwingen nach kurzer Zeit synchron. Etwas Ähnliches geschieht mit den Atomwolken: Wenn sie gekoppelt sind, synchronisieren sie sich ganz von selbst, in bemerkenswert kurzer Zeit. „Das klingt eigentlich ganz normal, wenn man an Pendeluhren denkt, aber nach den anerkannten Theorien über Bose-Einstein-Kondensate ist das sehr überraschend – denn bei uns gibt es eigentlich keine Energie-Dissipation“, sagt Jörg Schmiedmayer. „In einem solchen Quantensystem, das von der Umwelt völlig abgeschirmt ist und keine Energie verloren geht, würde man eigentlich abwechselnd Synchronisations- und Desynchronisationsphasen erwarten.“

Auf der Suche nach einem unbekannten Mechanismus

„Wenn wir die Atomwolken desynchronisieren, bringen wir das System aus dem Gleichgewicht“, sagt Marine Pigneur. „Die meisten Theorien bisher konnten gekoppelte Bose-Einstein-Kondensate erfolgreich beschreiben, aber sie sind ungeeignet um ein System zu beschreiben, das sich nicht in einem Gleichgewichtszustand befindet. Daher können sie die beobachtbare Synchronisation nicht erklären.“

Die Tatsache, dass der „Quantentakt“ der beiden Atomwolken nach ein paar Millisekunden völlig gleich ist, deutet darauf hin, dass über irgendeinen Mechanismus Energie aus dem System verloren geht. Nachdem das System abgeschlossen ist, kann die Energie allerdings nicht verschwinden, sondern nur übertragen werden. „Die Kopplung, wie sie von gängigen Lehrbuch-Theorien beschrieben wird, kann Energie aber nicht so rasch und so stark übertragen, wie wir es beobachten. Entweder diese Theorien übersehen etwas – oder sie sind einfach falsch. Das bedeutet, dass unser Verständnis der Wechselwirkung zwischen den Atomen selbst modifiziert werden muss.“

Mit diesem erstaunlichen Ergebnis hofft das Forschungsteam, weitere Forschung auf diesem Gebiet anzustoßen. „Schließlich ist das Verhalten von Vielteilchen-Quantensystemen heute eines der großen ungelösten Probleme der modernen Physik“, sagt Jörg Schmiedmayer. „Es verbindet viele ganz grundlegende Fragen – vom Zustand des frühen Universums gleich nach dem Urknall bis hin zur Frage, warum die merkwürdigen Effekte der Quantentheorie nur auf winziger Skala beobachtet werden können, während sich größere Objekte an die Regeln der klassischen Physik halten.“

Quelle: Technische Universität Wien

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