Wenn der Fisch im Holodeck schwimmt
Archivmeldung vom 22.08.2017
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtVerhaltensexperimente sind nützliche Werkzeuge um Gehirnfunktionen zu untersuchen. Standardversuche zur Erforschung des Verhaltens von beliebten Labortieren wie Fischen, Fliegen oder Mäusen imitieren aber nur unvollständig die natürlichen Bedingungen. Das Verständnis von Verhalten und Hirnfunktion ist daher begrenzt. Virtual Reality hilft bei der Erzeugung einer natürlicheren experimentellen Umgebung, erfordert aber eine Immobilisierung des Tieres. Dies stört die sensomotorische Erfahrung und verändert so neuronale Reaktionen und das Verhalten.
ForscherInnen an der Universität Freiburg und den Max F. Perutz Laboratories (MFPL), ein Joint Venture der Universität Wien und Medizinischen Universität Wien, in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) und dem MPI für Ornithologie in Konstanz, haben nun ein VR-System für frei bewegliche Tiere – FreemoVR – entwickelt, um diese Einschränkungen zu überwinden. Ihre Ergebnisse werden aktuell in Nature Methods veröffentlicht.
Vom Verhalten zur Hirnfunktion
Eine Person sieht eine andere Person. Je nach Kontext können nun sehr unterschiedliche Interaktionen stattfinden. Der endgültige Ausgang nach der anfänglichen visuellen Erfahrung ist das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen von Neuronen in verschiedenen Gehirnregionen, die immer noch weitgehend unverstanden sind. Um die neuronale Basis des zugrundeliegenden Verhaltens zu studieren, haben WissenschafterInnen eine breite Palette an Techniken entwickelt. Die meisten erfordern jedoch entweder die teilweise oder vollständige Immobilisierung des Tieres. Dies beschränkt sensorischen Input und Feedback und verändert letztlich die neuronale Antwort und das Verhalten des Tieres. Darüber hinaus ist die Nachahmung der natürlichen Bedingungen in einem Labor schwierig.
Eine dreidimensionale, reaktive, computergesteuerte Welt für Tiere in Bewegung
Mit FreemoVR haben die Gruppen von Andrew Straw an der Universität Freiburg (ehemals IMP), und Kristin Tessmar-Raible an den MFPL nun ein bahnbrechendes System zur Rekonstruktion tierischer Bewegungen entwickelt. Das Programm überwindet die meisten der bisherigen Hürden und lässt die frei beweglichen Tiere in eine reaktive, dreidimensionale Welt eintauchen, die von Computern gesteuert wird. Durch FreemoVR kann der Versuchsleiter das visuelle Erlebnis des Tieres kontrollieren und dabei die natürliche Rückmeldung der taktilen Sinne beobachten. Dazu entwickelten die WissenschafterInnen Verhaltensarenen, deren Wände oder Böden Computerdisplays waren, einschließlich beliebig formbarer Projektionsflächen. Mithilfe von Computerspiel-Technologie konnte das Tier dann die VR-Umgebung in diesen Arenen aus seiner eigenen Perspektive erforschen während es ging, flog oder schwamm.
"Wir wollten einen Holodeck für Tiere schaffen, damit sie eine reaktive, natürliche Umgebung unter Computersteuerung erleben konnten. Dies ermöglicht es uns zu erforschen, wie sie Gegenstände, ihre Umwelt und andere Tiere sehen", erklärt Andrew Straw, einer der leitenden Entwickler von FreemoVR.
Anwendungen von FreemoVR bei Fischen, Fliegen und Mäusen
Um zu bestätigen, dass FreemoVR tatsächlich eine realistische Antwort des frei beweglichen Tieres auf einen Gegenstand hervorruft, untersuchten die ForscherInnen die Reaktion von Zebrafischen und Fliegen auf einen virtuellen, aufrechten Pfosten. Zusätzlich zeigten sie, dass Mäuse sowohl in einem echten, als auch in einem virtuellen erhöhten Labyrinth gleichermaßen Höhenangst hatten.
Mit FreemoVR fanden die Teams bisher unbemerkte Verhaltensunterschiede zwischen einem Wildtyp- und einem mutierten Zebrafisch-Stamm, die die Empfindlichkeit des Systems aufzeigten. Zusätzlich erforschten die Teams jene Regeln, die soziale Interaktionen zwischen echten und virtuellen Zebrafischen bestimmen. Sie fanden heraus, dass der potenzielle "Anführerfisch" das Risiko, seine Anhänger zu verlieren, minimiert, indem er seine persönliche Vorliebe für eine Schwimmrichtung mit den sozialen Rückmeldungen des untergeordneten Fisches ausgleicht.
Zukunftsperspektiven
Die Erforschung und Manipulation des Verhaltens von weniger komplexen Organismen wie Fischen oder Fliegen, aber auch von komplexeren wie Mäusen und sogar Menschen, erlaubt es NeurowissenschafterInnen, Informationen über Gehirnfunktionen abzuleiten.
"Ich freue mich sehr darauf, komplexere und lebensnahe Umgebungen nachzuahmen, um höhere Gehirnfunktionen in Medakafischen und Zebrafischen zu testen. Dies wird uns helfen, deren Gehirnfunktionen besser zu verstehen und Aufschluss darüber geben, inwieweit wir diese tagaktiven Wirbeltiere als Modelle für neuropsychologische Störungen nutzen können", sagt Kristin Tessmar-Raible von den MFPL, die den Großteil der Fischstudie leitete.
Vom Einsatz von FreemoVR in der Zukunft erhoffen sich die Teams, Einblicke in die Gehirnfunktion von komplexeren Verhaltensweisen wie Navigation zu gewinnen, Kausalitäten im kollektiven Verhalten von sozialen Gruppen besser zu verstehen und, auf lange Sicht, Verhaltensmechanismen unter jenen Bedingungen zu studieren, in denen das Gehirn seine Funktionsfähigkeit entwickelte.
Quelle: Universität Wien (idw)