Reaktor-Experten Stephan Kurth: ,,Große Gefahr durch Abklingbecken"
Archivmeldung vom 19.03.2011
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.03.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNoch ist unklar, wie sich die atomare Katastrophe in Japan weiterentwickelt. Derzeit kämpfen 50 Arbeiter des Atomkraftwerkes Fukushima I gegen Kernschmelzen in den sechs Reaktoren. Dabei werden Hubschrauber eingesetzt, die Kühlmittel auf den havarierten Reaktoren abladen. Zudem sind Wasserwerfer im Einsatz. Große Hoffnungen richten sich auf neue Stromleitungen zum Katastrophen-AKW. Doch viele Experten bezweifeln, dass weitere Kernschmelzen verhindert werden können.
Sorgen bereitet vor allem Reaktor 4, weil dort außerhalb des Schutzmantels alte Brennelemente in einem Abklingbecken lagern. ,,So ein Abklingbecken birgt, vor allem, weil nicht nur der aktuelle Kern, sondern noch weitere ältere Kerne dort lagern, ein noch größeres Risiko", sagt Stephan Kurth, Experte für Nukleartechnik und Anlagensicherheit vom Öko-Institut, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Die Reaktoren des Kernkraftwerkes Fukushima 1 sind quasi sich selbst überlassen. Die verbliebenen 50 Mitarbeiter müssen wegen der hohen Strahlenbelastung immer wieder ihre Arbeiten stoppen. Droht nun ein sechsfaches Tschernobyl?
Stephan Kurth: Tschernobyl war gekennzeichnet durch einen Brand in der Reaktoranlage. Das führte dazu, dass große Teile des Kerns freigesetzt und in großen Höhen verteilt und verbreitet wurden. Im Atomkraftwerk Fukushima ist noch unklar, wie groß die Beschädigungen bereits sind. Anhand der teilweise hohen Strahlenwerte kann man aber ableiten, dass die Barrieren, die eigentlich Radioaktivität zurückhalten sollten, nicht mehr vollständig vorhanden sind. Wie weit eine Kernschmelze schon fortgeschritten ist oder ob noch irgendetwas zum Stillstand kommt, kann man derzeit schwer beurteilen.
Bei einer Kernschmelze mit Brand wäre es wie in Tschernobyl. Was wäre denn bei einer Kernschmelze ohne Brand?
Kurth: Entscheidend wird erst einmal sein, welche Anteile des Kerns freigesetzt und in der Umgebung verteilt werden. Und man muss abwarten, ob noch Explosionen und weitere Brände hinzukommen.
In Reaktor 4 befindet sich das Abkühlbecken außerhalb des Sicherheitsbehälters. Macht das die Lage besonders prekär?
Kurth: Ja. In Reaktor 4 hat man abgebrannte Kerne in ein Abklingbecken ausgelagert, das sich außerhalb des inneren Teils der Reaktoranlage befindet. So ein Abklingbecken birgt, vor allem, weil nicht nur der aktuelle Kern, sondern noch weitere ältere Kerne dort lagern, ein noch größeres Risiko. Denn auch solche Kerne müssen dauerhaft gekühlt werden. In Reaktor 4 ist aber auch die Kühlung des Abklingbeckens ausgefallen, das Becken ist beschädigt und läuft leer. Die Brennelemente überhitzen sich, die Strahlung in der Umgebung steigt an, da es keine schützende Hülle über dem Becken mehr gibt, die die freigesetzten radioaktiven Stoffe zurückhält.
Reicht die derzeitige Evakuierungszone von 20 Kilometern rund um Fukushima 1 aus?
Kurth: Das hängt von vielen Faktoren ab. Wie entwickeln sich die Freisetzungen, wie entwickelt sich das Wetter? Derzeit kann ich nicht abschätzen, ob die Evakuierungszone ausgeweitet werden sollte.
Müssten die havarierten Reaktoren ähnlich wie in Tschernobyl eine Art Sarkophag, an dem damals Hunderttausende Liquidatoren gebaut haben, erhalten?
Kurth: Im Moment wird in Fukushima noch versucht, mit allem, was einem einfällt, Kernschmelzen zu verhindern oder zu begrenzen. Nachher werden die entscheidenden Fragen sein, wie weit die Schmelze fortgeschritten ist, ob man alles an Ort und Stelle belassen und eine Art Sarkophag wie in Tschernobyl bauen muss oder ob man besonders stark strahlende Teile später abtransportieren und woanders geschützt lagern kann.
Was passiert denn bei einer Kernschmelze mit dem Reaktorbehälter? Wie weit könnten denn die Brennelemente in den Boden eindringen?
Kurth: Wenn bestimmte Temperaturen erreicht werden, würde der Stahlbehälter nicht mehr standhalten können. Danach könnte es auch Reaktionen mit dem Betonfundament oder beim Kontakt mit Wasser geben und auch weitere Explosionen oder Brände sind möglich. Aber es gibt -- glücklicherweise -- noch keine Erfahrungen mit einer solchen Kernschmelze, die eine sichere Vorhersage ermöglichen. Allerdings wäre der Weg des spaltbaren Materials nach unten für die direkte Umgebung erst einmal der weniger schlimme.
Die Schwachstelle eines jeden Reaktors ist die Stromversorgung. Reichen die bisherigen Notstromversorgungs-Einrichtungen in Deutschland aus, die auf einen 72-stündigen Stromausfall ausgelegt sind?
Kurth: Was Sie ansprechen, sind die Dieselvorräte der Notstromaggregate. Diese müssen bei einem Notfall innerhalb von 72 Stunden aufgefüllt werden. In Japan wurden die Notstromaggregate und Treibstoffbehälter wahrscheinlich durch den Tsunami beschädigt oder zerstört. In einem solchen Fall nützen auch eine mehrfach vorhandene Notstromversorgung und große Dieselvorräte natürlich nichts mehr.
Könnten Terroristen eine solche Schwachstelle nutzen?
Kurth: Ja. Die Stromversorgung ist und bleibt ein wunder Punkt aller Kernkraftwerke. Ein Stromausfall betrifft die gesamte Anlage. Auch in einem abgeschalteten Kernkraftwerk wird ständig Strom zur Kühlung der Anlage benötigt. Wenn -- wie jetzt in Japan -- große Teile des Stromnetzes über einen längeren Zeitraum ausfallen, muss man auch die Frage stellen, wie man hier damit umgehen würde, wenn Strom längere Zeit ausfallen sollte.
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hält an der Kernenergie fest und betont, französische Reaktoren seien die sichersten, weil sie eine doppelte Schutzhülle haben. Würde diese doppelte Kernhülle oder Containments einer Kernschmelze standhalten?
Kurth: Ich weiß nicht, von welchen Anlagen Herr Sarkozy spricht. Auch die aktuellen französischen Anlagen haben keine Schutzhülle, die einer Kernschmelze standhält. Die neuesten Anlagen in Frankreich sind etwa auf dem technischen Stand wie die neuesten Anlagen in Deutschland. Sie haben im Inneren einen Sicherheitsbehälter, der aus Stahl gefertigt ist und gas- und bis zu einer gewissen Höhe auch druckdicht ist. Um diesen Stahlbehälter herum gibt es eine Betonhülle, die vor allem vor ,,Angriffen" von außen wie Flugzeugabstürze schützen soll. Echte doppelte Schutzhüllen, mit denen auch ein verbesserter Schutz bei Kernschmelzunfällen erreicht werden soll, sind erstmals für den sogenannten Europäischen Druckwasserreaktor, der zur Zeit in Finnland und Frankreich gebaut wird, geplant. Allerdings fehlen auch hier Erfahrungswerte und damit auch die letzte Sicherheit, ob alle tatsächlich auftretenden Belas"tungen bei einem Kernschmelzunfall beherrschbar sind. Insofern relativiert sich die Aussage Sarkozys.
Welche Lehren können, welche müssen gezogen werden aus der Katastrophe in Japan?
Kurth: Wir sollten jetzt nicht diskutieren, ob Tsunamis oder Erdbeben dieser Stärke in Deutschland auftreten können. Aber wir müssen darüber nachdenken, wie weit man gegangen ist bei den Annahmen über die Stärke von Erdbeben an deutschen Kernkraftwerkstandorten. In Japan hätte bis vor wenigen Tagen niemand mit einem derart starken Beben gerechnet. Wir müssen uns in Deutschland auch fragen, wie weit wir allgemein mit der Auslegung gegangen sind und wie die Sicherheit der Anlage definiert ist: Wie viel darf ausfallen, wie viel darf drum herum zerstört werden, damit ein Reaktor noch beherrschbar bleibt? Wenn wir in Deutschland großflächige Stromausfälle hätten und gleichzeitig durch Fehler oder Verkettung unglücklicher Umstände Probleme mit Notstromaggregaten hätten, kämen wir in die gleiche Situation wie jetzt Japan.
Erwarten Sie einen Umdenkprozess in Kernkraft-Nationen wie Frankreich, USA, oder Russland erst dann, wenn dort radioaktiver Fallout aus Fukushima in größeren Mengen niedergeht?
Kurth: Die Lerneffekte sind leider am größten, wenn man selbst betroffen ist. Ansonsten gibt es die Abwehrhaltung ,,Augen zu und durch" oder man reagiert -- wie in Deutschland --- vor allem auf Emotionen und zieht deswegen erste Maßnahmen in Erwägung. Frankreich hat zudem finanzielle Interessen und sieht Atomkraftwerke als Exportschlager. Allgemein gilt aber: Vor allem halten diejenigen Länder an der Kernenergie fest, die noch nicht den Ansatz zu einer anderen Energieversorgung gemacht oder noch kein Konzept für die Umstellung auf erneuerbare Energien haben. Da sind wir in Deutschland schon sehr viel weiter.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Werner Kolbe)