Wie sich Atome zu neuen Molekülen umordnen
Archivmeldung vom 11.01.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittChemische Reaktionen, also die allgegenwärtige Umordnung von Atomen zu neuen Molekülen, geben Wissenschaftlern und Ingenieuren schon seit Jahrhunderten Rätsel auf. Nur durch das Verständnis des Ablaufs chemischer Reaktionen kann man heutzutage die Herstellung von Kunststoffen und Medikamenten verbessern oder die Zerstörung der Ozonschicht unserer Erde verhindern.
Eine der wichtigsten Klassen chemischer Reaktionen haben nun
Wissenschaftler am Physikalischen Institut der Universität Freiburg
erstmalig im Detail entschlüsseln können. In dieser interdisziplinären
Arbeit zwischen Physik und Chemie, die in der neuesten Ausgabe des
Fachmagazins Science erscheint, zeigen sie, dass die Umordnung der
Atome während dieser Reaktion ganz anders abläuft als bisher angenommen
(Science online, 11.01.08 DOI 1126/science.1150238)
Vor fünf
Jahren begann PD Dr. Roland Wester als Projektleiter in der
Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Matthias Weidemüller mit dem Bau einer
speziellen Apparatur, in der einzelne chemische Reaktionen wie in einem
Billiardspiel beobachtet werden können. Die Ausgangsstoffe bewegen sich
dabei mit kontrollierter Geschwindigkeit aufeinander zu und reagieren
miteinander. Dann werden die Geschwindigkeit der entstehenden
Reaktionsprodukte mit einer Kamera sichtbar gemacht. "Am Anfang hatten
wir nicht nur mit vielen ungelösten Problemen zu kämpfen, sondern auch
mit den Zweifeln unserer Fachkollegen, dass diese Experimente jemals
klappen würden. Heute verfügen wir über eine weltweit einmalige
Apparatur zur Beobachtung einer Vielzahl chemischer Reaktionen." sagt
Roland Wester.
In ihrer aktuellen Arbeit haben die Freiburger
Wissenschaftler die Austauschreaktion von negativ geladenen
Chlor-Atomen mit Iodmethan-Molekülen CH3I. Dabei entstehen das Molekül
CH3Cl und ein negativ geladenes Jod-Atom. Die Freiburger Experimente
förderten verschiedene unerwartete Effekte zu Tage. Entgegen der
einfachen Vorstellung, die sich auch in vielen Chemie-Lehrbüchern
findet, läuft diese Austauschreaktion bei geringen
Chlor-Geschwindigkeiten nämlich nicht so ab, dass das Chlor-Atom sich
dem CH3I-Molekül von einer Seite nähert und das Jod-Atom nach der
Umordnung des molekularen Komplexes in entgegen gesetzter Richtung
davonfliegt. Stattdessen dreht sich der Reaktionskomplex mehrfach in
verschiedene Richtungen, so dass sich das Jod-Atom in unbestimmter
Richtung vom Komplex löst. "Durch die Zusammenarbeit mit der
Theorie-Gruppe von Prof. Dr. Bill Hase, Texas Tech University, USA,
gelang es uns sogar noch einen weiteren, völlig unerwarteten,
Reaktionsmechanismus zu entdecken, der bei höheren Geschwindigkeiten
wichtig wird." erläutert Dr. Jochen Mikosch, der vor kurzem über die
experimentellen Arbeiten in Freiburg promovierte. Diesem neuen
Reaktionsmechanismus haben die Forscher gleich einen Namen gegeben. Sie
nennen ihn den "Roundabout"-Mechanismus nach dem englischen Wort für
Karussell und Kreisel.
Die untersuchten Austauschreaktionen spielen
in Wasser und damit möglicherweise in biologischen Prozessen eine sehr
große Rolle. Deshalb wollen die Forscher in Zukunft den Einfluss von
Wassermolekülen auf die Reaktion untersuchen. Dabei geht es ihnen um
bessere Vorhersagen des Ablaufs technologisch wichtiger Reaktionen und
um das Verständnis chemischer Prozessen in lebenden Zellen. Vor allem
aber sind Matthias Weidemüller und Roland Wester überzeugt, dass das
Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie, das durch die Verbindung aus
Komplexität und Quantentheorie geprägt ist, noch viele weitere
Überraschungen bereithält. "Unser Verständnis der modernen
Quantenphysik erfährt derzeit einen Paradigmenwechsel. Man ging bislang
davon aus, dass quantenmechanische Prozesse keinen nennenswerten
Einfluss auf komplexe Vorgänge, insbesondere in der belebten Natur,
haben. Inzwischen hat sich durch die Forschritte in der Erforschung
komplexer Quantensysteme der Blick geweitet und ich bin sicher, dass
man schon in naher Zukunft Hinweise auf Phänomene in der belebten Natur
finden wird, bei denen die Quantenphysik eine entscheidende Rolle
spielt", meint Matthias Weidemüller. Diese zu entdecken ist für die
Freiburger Wissenschaftler die große Herausforderung.
Quelle: Physikalisches Institut, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg