Wie nehmen Fische ihre Umgebung wahr?
Archivmeldung vom 05.05.2017
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtFische nehmen mit dem Seitenlinienorgan Strömungsveränderungen durch Beute, Artgenossen und Räuber wahr. Mit den winzigen Sensoren des Organs können sie außerdem sicher navigieren. Allerdings nimmt mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit auch das Hintergrundsignal zu. Wissenschaftler der Universität Bonn haben nun zum ersten Mal ein wirklichkeitsgetreues, dreidimensionales Modell eines Fisches erschaffen und damit die Strömungsverhältnisse simuliert. Die virtuellen Berechnungen zeigen, dass besondere Anpassungen das Hintergrundrauschen minimieren. Die Ergebnisse werden nun in der Fachzeitschrift „The Journal of the Royal Society Interface“ vorgestellt.
Die Orfe (Leuciscus idus) ist ein Fisch, der im Unterlauf langsam fließender Ströme lebt. Das rund 30 bis 85 Zentimeter große Tier kommt auch im Rhein vor. Wie die meisten Fische kann es mit seinem Seitenlinienorgan Wasserströmungen wahrnehmen. Die Strömungssensoren sind über die ganze Körperoberfläche verteilt, weshalb das Organ ein dreidimensionales Abbild der Strömungsverhältnisse liefert. Fische können sich damit auch in der Dunkelheit orientieren sowie Beute, Artgenossen und Räuber erkennen. Der seit Kurzem pensionierte Zoologe Prof. Dr. Horst Bleckmann von der Universität Bonn hat das sensible Organ lange Jahre erforscht und als Inspiration für technische Strömungssensoren genutzt, um damit zum Beispiel Leckagen in Wasserleitungen ausfindig zu machen.
Erstes wirklichkeitsgetreues und dreidimensionales Computermodell
In eine neue Dimension der Seitenlinienforschung bei Fischen sind nun die Wissenschaftler Dr. Hendrik Herzog vom Institut für Zoologie und Dr. Alexander Ziegler vom Institut für Evolutionsbiologie und Ökologie der Universität Bonn vorgedrungen: Sie erschufen das erste wirklichkeitsgetreue, dreidimensionale Computermodell des Seitenliniensystems, an dem sie die exakten Strömungsverhältnisse des umgebenden Wassers berechneten. „Wir konzentrierten uns auf den Kopf der Orfe, weil dort das Seitenlinienorgan des Fisches besonders komplex ausgebildet ist“, berichtet Dr. Herzog.
Dieses Organ verfügt über zwei verschiedene Typen von Sensoren. Einige ragen wie kleine Höcker aus der Oberfläche der Fischhaut heraus und werden direkt vom Wasser umströmt. Andere sitzen in Kanälen, die in den Schädelknochen eingesenkt sind und über Poren mit dem umgebenden Wasser in Verbindung stehen. „Befindet sich nun zum Beispiel ein Bachflohkrebs als Beute in der Nähe, dann ändern sich lokal Wasserströmung und Druckverhältnisse“, erläutert Dr. Ziegler. Der Fisch registriert dies mit seinen zahlreichen Sensoren. „Bislang war die tatsächliche Funktion solch unterschiedlicher Strömungsmesstypen aber nicht abschließend geklärt.“
Tatkräftige Unterstützung erhielten die beiden Forscher von Birgit Klein von der Westfälischen Hochschule Bocholt. In ihrer Bachelorarbeit am Institut für Zoologie verglich die jetzige Masterstudentin verschiedene Methoden zur 3D-Rekonstruktion. So nahm sie vom Kopf der Orfe rund 350 Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven auf und berechnete daraus ein 3D-Modell der Fischoberfläche. Vorher hatte sie die Kanäle und Sensoren des Seitenlinienorgans angefärbt, weshalb sich die Strukturen in dem Modell gut erkennen lassen. Anschließend optimierte sie den Datensatz, indem sie den Fischkopf mit einem viel höher auflösenden Laserscanningverfahren digitalisierte.
Damit war ein realistisches Abbild der Fischoberfläche geschaffen, das Innere des Tieres war aber noch nicht erfasst. Deshalb nutzten die Forscher als dritte Methode einen Mikro-Computertomographen. Dank eines Kontrastmittels ließen sich Weichteile auch mit diesem Röntgenverfahren abbilden. Am Ende flossen Daten aus allen drei Verfahren in das wirklichkeitsgetreue Modell des Seitenlinienorgans ein. Daran simulierten die Zoologen unterschiedliche Strömungsbedingungen und berechneten die hydrodynamischen Signale an den verschiedenen Sensoren.
Eine Herausforderung für die Fische ist starke Strömung, weil dann das Hintergrundrauschen für die Sensoren besonders groß ist. Trotzdem kann der Fisch selbst bei hohen Wassergeschwindigkeiten seine Umgebung präzise wahrnehmen. Wie die Forscher mit ihren Berechnungen zeigen, sorgen Vertiefungen dafür, dass für die an der Hautoberfläche sitzenden höckerartigen Sensoren die Strömung stark reduziert wird. „Die relative Signalstärke von zum Beispiel Beuteorganismen wird dadurch größer“, erklärt Dr. Herzog. Für die in Kanälen sitzenden Sensoren zeigte sich, dass durch unterschiedliche Kanaldurchmesser jeweils bestimmte Abschnitte des Seitenlinienorgans für die jeweilige Strömungsstärke besonders sensibel sind.
Bionische Anwendung: Bessere Navigation von Unterwasserrobotern
„Durch unseren methodischen Ansatz werden in Zukunft vergleichende anatomische Studien zwischen unterschiedlichen Fischarten mit einem besonders hohen Detailgrad möglich“, berichtet Dr. Ziegler. Sein Kollege sieht bionische Anwendungen im Vordergrund: Mit den Erkenntnissen aus solchen 3D-Modellen von Fischen ließe sich möglicherweise auch die autonome Navigation von Unterwasserrobotern mittels Strömungssensorik erheblich verbessern, schlägt Dr. Herzog vor.
Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (idw)