Raffinierter als der Eiffelturm: Architekten erforschen russische Gittertürme
Archivmeldung vom 24.09.2011
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.09.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVladimir G. Schuchov gehört zu den genialsten Ingenieuren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Russe entwickelte völlig neue Bautechniken, darunter das erste Hängedach. Aus verdrehten, sich überkreuzenden Stabreihen baute er bis zu 150 Meter hohe Gittertürme – eine enorm sparsame, äußerst stabile und überdies elegante Konstruktionsweise. Doch sein Werk wird international kaum beachtet. Ein internationales Forscherteam untersucht nun Entstehung, Tragverhalten und Zustand der Bauwerke. Als erster Wissenschaftler hatte Andrij Kutnyi von der Technischen Universität München (TUM) Zugang zu den 100 Jahre alten Schuchov-Leuchttürmen am Schwarzen Meer.
Zweieinhalb Wochen lang hauste Andrij Kutnyi mit zwei Leuchtturmwärtern auf einer winzigen künstlichen Insel, kämpfte gegen Giftschlangen und sah bei enormer Hitze seine Trinkwasservorräte schwinden. Doch der Bauforscher nahm diese Strapazen gern auf sich. Schließlich hatte er als erster Wissenschaftler die Möglichkeit, ein architektonisches Meisterwerk der frühen Moderne aus der Nähe zu betrachten – exakt 100 Jahre nach dessen Errichtung: den 70 Meter hohen Leuchtturm, der mit seinem 25 Meter hohen Pendant bis heute Schiffen den Weg aus dem Schwarzen Meer in den Djnepr, hinauf in die Ukraine, weist. Bis vor fünf Jahren gehörte das Areal noch zu einem militärischen Sperrgebiet, pünktlich zum Jubiläum bekam der gebürtige Ukrainer Kutnyi die Genehmigung.
Mit elegantem Schwung streben die Stahl-Gitter der Türme gen Himmel, trotz ihrer Feingliedrigkeit tragen sie mühelos die Kapseln für die Leuchtfeuer. Die Gitterkonstruktion ist eine Erfindung des russischen Ingenieurs Vladimir G. Schuchov (1853-1939), die ohne jedes Vorbild war: Auf eine Kreislinie stellte er zwei Gruppen parallel angeordneter Stäbe, die er gegeneinander verdrehte. So bekommt der Turm eine sogenannte hyperbolische Form mit einer Taille, wie man sie heute von Kühltürmen kennt.
Diese vermeintlich simple Anordnung bringt bedeutende Vorteile. Zum einen braucht sie nur sehr wenig Material. Während für den 300 Meter hohen Eiffelturm rund 10.000 Tonnen Stahl verbaut wurden, plante Schuchov für einen (nicht realisierten) 350 Meter hohen Funkturm in Moskau mit gerade einmal 2.000 Tonnen Stahl. Zum anderen erreichte er trotz des Leichtbaus eine überraschend hohe Stabilität. Die gegeneinander gerichteten Krümmungen des Gitters bewirken, dass es große Lasten tragen kann.
Sieben Jahre nach der Einweihung des Eiffelturms auf der Pariser Weltausstellung präsentierte Schuchov den ersten dieser Türme auf der Allrussischen Ausstellung in Nizhnij Novgorod. Ein wahrer Bauboom von Wassertürmen, Öl- und Gastanks oder Stromleitungsmasten folgte. Russen und Amerikaner nutzten die Technik wegen ihrer Widerstandskraft für die Funktürme ihrer Kriegsschiffe. Bis heute kommt sie zum Einsatz: Das Tragwerk des jüngst fertiggestellten Canton-Towers im chinesischen Guangzhou, des mit 600 Metern dritthöchsten Gebäudes der Welt, beruht auf der Struktur. „Schuchov hat eines der klügsten und zugleich anspruchsvollsten Konstruktionsprinzipien in der Geschichte des Bauens mit Eisen erfunden“, sagt TUM-Architekt Kutnyi. Es war nicht die einzige revolutionäre Idee des vielseitigen Chefingenieurs einer großen Baugesellschaft. Er entwickelte Hängedächer, Bogentragwerke und Gitterschalen, die oft erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden, etwa bei den Dächern der Münchner Olympiabauten. „Schuchov ist einer der wichtigsten Pioniere des Leichtbaus“, betont Matthias Beckh vom TUM-Lehrstuhl für Tragwerksplanung. Dennoch sind seine eigenen Bauten im Westen in Vergessenheit geraten, die Leuchttürme am Schwarzen Meer höchstens Kapitänen ein Begriff.
Das erste Ziel des interdisziplinären Forschungsprojekts mit Wissenschaftlern der Universität Innsbruck und der ETH Zürich ist deshalb, sämtliche Bauwerke Schuchovs zu identifizieren, mehrere bis jetzt unbekannte haben die Wissenschaftler bereits entdeckt. Viele Türme sind von Verfall und Zerstörung bedroht, wiewohl die Schäden wiederum ihre hohe Standfestigkeit beweisen: Ein Hochspannungsmast hielt sich aufrecht, obwohl schon 16 von 40 Füßen fehlten; den Wissenschaftlern gelang es, seine Sanierung zu initiieren. Andere Bauten sind bereits vernichtet. Erst kürzlich wurde ein Turm, den die Forscher als Schuchov-Werk gerade erst entdeckt hatten, demontiert. Die Wissenschaftler hoffen, dass ihre Forschung die Bauwerke bekannter macht und damit auch die Chance auf deren Erhalt erhöht.
Im zweiten Schritt vermessen und dokumentieren die Bauforscher der TU München die Konstruktionen und rekonstruieren ihre Entstehung. Bei seinem ersten Besuch des Dnjepr-Leuchtturms fand Andrij Kutnyi heraus, dass die Arbeiter sich offenbar an einer Methode mittelalterlicher Handwerker orientierten: Ähnlich den damaligen Zimmerer-Zeichen nummerierten sie die Einzelteile mit Einkerbungen im Stahl, bevor die Teile in die Höhe transportiert und dort zusammengenietet wurden. „Diese Nummerierungen sind für uns heute sehr wertvoll, weil wir nun untersuchen können, in welcher Reihenfolge der Turm gebaut wurde“, freut sich Kutnyi. Sicher sind sich die Wissenschaftler schon, dass der Turm ein besonderes Exemplar ist. Mit seinen 70 Metern ist er der höchste Turm mit nur einer Taille, während Schuchov andere Türme in mehrere „Etagen“ gliederte, die jeweils eine hyperbolische Form haben.
Was die Türme im Einzelnen so stabil macht, untersuchen die Tragwerksplaner der TUM: Welche Parameter bestimmen die Form der Hyperboloide? Welche Wechselwirkungen haben Geometrie und Tragverhalten? Modelle der Türme wollen die Forscher im Windkanal der TUM testen. „Niemand weiß bislang, wie groß die Windeinwirkungen auf diese komplexen Strukturen wirklich sind“, sagt Matthias Beckh. „Deshalb ist es schwierig, gängige Baunormen auf sie anzuwenden.“ Das Forschungsprojekt könnte damit Grundlagen schaffen, Schuchovs zeitlos elegante Formen wieder vermehrt einzusetzen – beispielsweise für neue Strommasten, die wegen der Energiewende gebaut werden müssen.
Neben den TUM-Lehrstühlen für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege (Prof. Manfred Schuller) sowie für Tragwerksplanung (Prof. Rainer Barthel) sind das Forschungsinstitut Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck (Prof. Rainer Graefe) sowie das Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich (Prof. Uta Hassler) am Projekt „Konstruktionswissen der frühen Moderne – Schuchovs Strategien des sparsamen Eisenbaus“ beteiligt. Sie kooperieren mit der Russischen Akademie der Wissenschaften, dem Schuchov-Turm-Fonds in Moskau und mehreren russischen Universitäten. Das Projekt wird vom D-A-CH-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung und des Schweizerischen Nationalfonds gefördert.
Quelle: Technische Universität München (idw)