Warum es von Vorteil sein kann, Äpfel und Birnen nicht zusammenzählen zu können
Archivmeldung vom 19.01.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.01.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn jemand "nicht bis drei zählen" kann, setzen wir kein großes Vertrauen in seine sonstigen geistigen Fähigkeiten. Und wenn jemand Orangen auf eine andere Weise zählt als Brotfrüchte, und diese wiederum anders als Brotfrüchte aus einer bestimmten Saison, kommt einem das gelinde gesagt umständlich und ineffizient vor.
Lange Zeit haben Wissenschaftler deshalb auch angenommen, dass einfache
Zahlsysteme mit wenigen Zahlworten und objektspezifische Zahlsysteme,
in denen verschiedene Objekte unterschiedlich gezählt werden, primitive
Vorstufen eines abstrakten mathematischen Verständnisses seien. Dass
diese Annahme nicht grundsätzlich stimmt, zeigen zwei Mitarbeiter von
Prof. Dr. Hans Spada am Institut für Psychologie der Universität
Freiburg in einem Artikel, der jüngst in Science (Bd. 319, S. 213,
2008) erschienen ist.
Der Psychologe Sieghard Beller und die
Ethnologin Andrea Beller verglichen dazu vier Sprachen im pazifischen
Raum, die alle von der gleichen Muttersprache, dem Proto-Ozeanischen,
abstammen. Während die Muttersprache vor über 4 000 Jahren aber bereits
ein abstraktes Zahlsystem auf der Basis zehn besaß, mit dem man
mindestens bis 1 000 zählen konnte, haben sich die Tochtersprachen auf
interessante Weise auseinander entwickelt. Adzera und Takia
beispielsweise, zwei Sprachen in Papua-Neuguinea, haben das
umfangreiche System aufgegeben und zählten in vorkolonialer Zeit nur
noch bis fünf, während im Fidschianischen und im polynesischen
Mangareva das abstrakte System erweitert und zusätzlich durch
verschiedene objektspezifische Systeme ergänzt wurde.
Diese Beispiele zeigen deutlich, so die beiden Forscher, dass die Annahme einer Evolution vom Einfachen zum Komplexen und vom Objektspezifischen zum Abstrakten nicht haltbar ist. Menschliche Kognitionen - und Zahlsysteme sind ein wichtiger Bestandteil davon - entwickeln sich vielmehr in Reaktion auf kulturelle Anforderungen. Wo kein Bedarf für das Zählen und große Zahlen besteht, wie dies in vielen Regionen Papua-Neuguineas der Fall war, werden komplexere Zahlsysteme nicht mehr gebraucht. Und wo sie nicht ausreichen, werden sie ausgedehnt und ergänzt, wie in Polynesien geschehen. Worin aber könnte der Sinn objektspezifischer Systeme liegen? Auch auf diese Frage haben die beiden Forscher eine Antwort: Zu einer Zeit, als es in Polynesien noch keine Zahlschrift gab, erleichterten die objektspezifischen Zählweisen das Kopfrechnen. Sie zählten nämlich nicht einzelne Objekte, sondern Paare oder andere Einheiten. Nimmt man zur Veranschaulichung das Zählen und Rechnen im Dutzend: 72 - 24 + 36 im Kopf auszurechnen, fällt den meisten schwerer als 6 Dutzend - 2 Dutzend + 3 Dutzend. Gerade solche Abkürzungsstrategien sind es, die objektspezifische Zahlsysteme so effizient machen. Mit ihrer Analyse konnten die beiden Forscher also nicht nur gängige Annahmen zur Evolution von Zahlsystemen widerlegen, sondern auch zeigen, dass Zahlsysteme, die bisher als primitiv galten, in Wirklichkeit sehr effizient und vorteilhaft waren.
Quelle: Institut für Pschychologie der Universität Freiburg